Vorwort zur zweiten Auflage

Der Naturgenuß wächst mir dem Verständnisse der Natur. Dieser Satz kann nur von solchen angefochten werden, welche die Außenwelt in Landschaft und Leben nie anders als nach unbestimmten Eindrücken auf sich haben einwirken lassen und ihr mit Gefühlen gegenüber stehen, von denen sie sich keine Rechenschaft geben können. Wie mancher meint nicht, das poetische Erfassen werde zerstört durch das verständnisvolle Eindringen, die Wirkung des an sich unbegriffenen Ganzen leide durch das Zergliedern. Auch könnte man darauf hinweisen, daß das Naturgefühl als Naturgenuß sich unabhängig von dem Begreifen entwickelt habe. Und doch bleibt es bei unserem Ausspruche.

Die Dinge verstehen, heißt sie im Zusammenhange und nach Ursachen und Bedingungen erkennen. Soweit mir dies gelingt, so sehr erweitere ich den Kreis der Bilder, in dem die schöpferische Phantasie webt, und von wo aus sie zu neuen Zusammenstellungen fortschreitet und zu Vermuthungen und Entdeckungen verhilft. Verlieren dabei Farbe und Form? Ist der Wechsel der Landschaft dem Auge und dem inneren Sinne minder erfreulich, wenn ich seine Abhängigkeit von der Gesteinsunterlage erkannt habe und Pflanze und Thier in Anpassung hieran und als Folgen längst vergangener Entwickelungsreihen? Nein. Je vielfacher die Anregungen sind, die wir beim Anblicke des Lebens an uns verspüren, und je klarer die Einsicht in den Zusammenhang der Gestaltungen, um so herrlicher leuchtet uns die Natur.

Wer die populäre Literatur über die Thierwelt verfolgen will – ein sehr dankbares Unternehmen –, muß wenigstens bis auf den frommen, in engem Gebiete emsigen Swammerdam zurückgehen, der in seiner »Bibel der Natur« in liebenswürdigster Darstellung die Größe und Weisheit des Schöpfers in Bau und Leben der verachtetsten Geschöpfe, wie der Schnecke und Eintagsfliege, preist. Während im vorigen Jahrhundert die Beschreiber und Zergliederer der höheren und größeren Thiere entweder, wie Buffon, durch glänzende Schilderung zu fesseln und durch wenig tiefgehende Vergleichungen Einheit in die Mannigfaltigkeit der Bildungen zu bringen suchten oder, wie Camper, ihre seinen Kenntnisse auf begrenzterem Gebiete künstlerisch und für Künstler verwertheten, ergingen sich schon etwas früher und gleichzeitig die Mikroskopiker in kindlicher Freude über die neu entdeckte verborgene Welt des Kleinen und luden zur Theilnahme an den harmlosen »Augen-und Gemüthsergötzungen« ein. Es ist die Zeit, in welcher man mit Rousseau und Haller zur Einfachheit und Wahrheit der Natur zurückkehrte, und jenes gesunde und kräftige Naturgefühl erwachte, das in Goethe so voll und prächtig seinen Ausdruck fand.

[1] Einen tief eingreifenden Anstoß zu einer populär-naturwissenschaftlichen Literatur und zur Beachtung derselben in den weitesten Kreisen hat Humboldt gegeben. Welche Wandlung der Anschauungen von Swammerdam bis zu diesen universellen Geistern! Aber das Thierreich findet bei Humboldt nur gelegentlich Berücksichtigung, und erst in den Schriften eines Burmeister, Vogt, Moleschott wird theils auf dem Umwege durch die Vorwelt, theils direkt die Naturgeschichte und Physiologie der Thiere der Neuzeit gemäß behandelt. Es mag jedoch hervorgehoben werden, daß das gebildete Publikum schon vor den genannten Schriftstellern den Entdeckungen in der niederen Thierwelt, vor allen Ehrenbergs Forschungen, ein sehr reges Interesse entgegenbrachte.

Das Unternehmen, das Leben der gesammten Thierwelt am Faden einer wissenschaftlichen Systematik und mit getreuen und künstlerisch ausgeführten Abbildungen unserem Volke zu schildern, war ein großartiges und nie dagewesenes. Der Zeitpunkt war glücklich gewählt. Gerade in den Sechziger Jahren war die Theilnahme an den großen und vielseitigen geographischen Entdeckungen in erfreulichstem Aufschwunge. Was aber noch wichtiger: in die Erfassung der Lebewelt war das wirkungsvolle Ferment der Abstammungslehre gekommen, wodurch jeder, der über seine Stellung in der Natur und sein Herkommen nachdenkt, vor allem zum Nachdenken über die Mitgeschöpfe gedrängt wird.

Der mir zugefallene Theil erheischte ganz besonders die Berücksichtigung dieses Punktes und beanspruchte in Verbindung damit ein tieferes Eingehen in Bau und Entwickelung. Ich muß hier wiederholen, was ich in den Vorbemerkungen zur ersten Auflage sagte.

»Vorzugsweise das Leben der höheren Thiere bietet jene wechselnden Situationen, welche zu Schilderungen geeignet sind. Bei der niederen Thierwelt kann uns weniger das meist einförmig dahinfließende äußere Leben fesseln; wir werden unwillkürlich an ihr inneres Leben gewiesen, das heißt an den Bau und die wundersamen Thatsachen der Entwickelung der Individuen. Das Leben eines Bandwurmes ist an Ereignissen reich; diese beziehen sich aber nicht auf die Thaten des Helden, der sich meist passiv in die ihm aufoktroyirten Lagen zu schicken hat. Was soll von dem äußeren Leben eines Seeigels viel Interessantes erzählt werden? Aber von höchstem Interesse ist die Verwandlung, die er zu bestehen hat. Wie kann ich dem Dasein eines unbrauchbaren Schwammes, der einsam am Grunde des Meeres auf einem Felsen steht, anders meine Wißbegier zuwenden, als wenn ich mit dem Mikroskope die unendlich mannigfaltigen Kieselbildungen dieser Geschöpfe enthülle, aus deren Varietäten ich auch dem wissenschaftlichen Laien einleuchtende Beweise für die vielberufene Umwandlungstheorie schöpfe. Ein an den Kiemen eines Fisches hängender, für sein ganzes Leben unverrückbar befestigter Schmarotzerkrebs ist außer dem Zusammenhange mit seiner Entwickelungsgeschichte und ohne Berücksichtigung seines Verhältnisses zu den übrigen Krebsen kaum des Ansehens werth: aber als Beispiel der merkwürdigen sogenannten rückschreitenden Metamorphose und nebenbei als Symbol der durch Nichtgebrauch der natürlichen Kräfte und Anlagen eintretenden Versimpelung Vermag er uns zu fesseln.

Der aufmerksame Leser und Freund der Natur entnimmt aus diesen wenigen Zeilen, daß dem Verfasser dieser Abtheilung eine etwas andere Ausgabe gestellt ist, als sie für die übrigen, und namentlich die ersten Bände des illustrirten Thierlebens vorschwebte. Auf vielen, über[2] einen großen Theil von Europa und seine Meere sich erstreckenden Reisen habe ich die niedere Thierwelt eingehend kennen zu lernen mich bemüht. Ich darf daher über ihr Vorkommen, ihre Lebensbedingungen und Lebensverhältnisse, die gegenseitige Stellung im Kampfe um das Dasein, die Gewinnung nützlicher Produkte aus dieser und jener Gruppe, – über diese und ähnliche Dinge darf ich meist aus eigener Anschauung reden. Es versteht sich also von selbst, daß diese Seiten der Darstellung ihre volle Berücksichtigung fanden. Daneben muß aber, wie angedeutet, und wie es in der Natur des zu behandelnden Gegenstandes liegt, der innere Zusammenhang der vielen Reihen und Abtheilungen der Lebewesen in der heutigen Welt, ihre Abstammung aus der Vorwelt, kurz ihre innere und äußere Ganzheit etwas mehr berücksichtigt werden, wofern dieses Vorhaben einen würdigen Abschluß finden soll.«

So damals. Und ich habe mich in dieser Auffassung meiner Aufgabe nicht getäuscht. Unterdessen, gerade im Verlaufe der Jahre, in denen die neue Bearbeitung ein wirkliches Bedürfnis geworden, ist die niedere Thierwelt in den angedeuteten Richtungen in großartiger Weise mit neuen Mitteln und Methoden erforscht worden, welche die allgemeine Aufmerksamkeit erregt haben.

Die planmäßige Untersuchung der physikalischen Verhältnisse des Meeres und des Meeresgrundes bis zu Tiefen von über fünfundzwanzigtausend Fuß hat Resultate ergeben, welche unsere Ansichten über die Bedingungen des niederen Thierlebens wesentlich umgestalteten, und wodurch die Gegenwart in die weiteste Verbindung mit Perioden der Erdentwickelung gesetzt worden, die wir als vor Urzeiten abgeschlossen hielten. Die Amerikaner, Engländer, Schweden und Deutschen haben gerade in diesen Jahren zur Erforschung des Tiefsee-Lebens Expeditionen entsendet, unter denen an Vollständigkeit der Ausrüstung und entsprechendem Erfolg die Weltfahrt des »Challenger« obenan steht.

Zu diesen schwimmenden Arbeitsstätten sind die zoologischen Stationen und Aquarien gekommen, welche schon jetzt über die Lebensweise zahlreicher niederen Thiere die willkommensten Aufschlüsse gegeben haben. In Roscoff an der bretagnischen Küste hat unser unermüdlicher Pariser Kollege Lacaze-Duthiers der Zoologie eine Pflegestätte bereitet; in Trieft ist der Forschung und Beobachtung eine Anstalt eröffnet, zu der ich mich rühmen darf, mit Karl Vogt, die ersten Anregungen und Pläne gegeben zu haben; den Zoologen der Vereinigten Staaten von Nordamerika ist von einem reichen Manne – unseren Geldmännern zum Vorbilde – eine ganze Insel mit vollständiger Ausrüstung nebst Betriebskapital gespendet worden; und in Neapel hat unser Landsmann Dohrn mit Hülfe des Deutschen Reiches eine internationale zoologische Station mit einem wundervollen Aquarium gegründet.

Durch diese Mittel und Wege wird unsere Einsicht in das Leben und die Gewohnheiten der niederen Thiere sowie in die daraus entspringenden Eigenthümlichkeiten ihres Baues, in ihre gegenseitigen Beziehungen und Anpassungen außerordentlich gefördert. Man wird bemerken, wie das der neuen Auflage zu statten gekommen ist.

Nun erst ist es möglich, mit Erfolg an die bildliche Darstellung vieler niederen Seethiere zu gehen. Es lag in der Natur der Sache, daß die Abbildungen der ersten Auflage sehr ungleich ausgefallen. Diese Ungleichheit ist noch nicht beseitigt, doch kann ich eine Reihe[3] Tochter Johanna hat einen Winter hindurch in der zoologischen Station in Neapel nach dem Leben gezeichnet. Dazu kommen die verständnisvollen Beiträge meines jungen zoologischen Freundes Dr. Simroth. Endlich sind gute Originale kopirt, so daß auch nach dieser Seite hin für die nothwendige Erweiterung des Werkes nach Möglichkeit gesorgt ist.

Eine gleichmäßig gut und vollständig durchgeführte Behandlung dieser niederen Thierwelt ist vorderhand überhaupt außer dem Bereiche der Möglichkeit. Ich brauche das nach dem vorhergesagten nicht näher zu begründen.

Im allgemeinen habe ich die Anordnung wie früher beibehalten und bin möglichst sparsam mit dem systematischen Fachwerk gewesen. Mein Werk ist kein Lehrbuch der Zoologie, aber eine Ergänzung eines solchen; und ein zoologisches Lehrbuch, was dem Bedürfnisse einer genaueren systematischen Orientirung abhilft, ist gleich zur Hand. Auch diesmal lasse ich sehr oft andere für mich sprechen, auch wo ich selbst gesehen. Ich denke aber, daß ein Faden sich durch das Ganze zieht.

Der Leser wird ihn finden, der sich des Dichterwortes erinnert:

Gestaltung, Umgestaltung –

Des ew'gen Sinnes ew'ge Unterhaltung.


Straßburg im Elsaß.

Oscar Schmidt.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. I1-V5.
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