Gemeiner Ohrwurm (Forficula auricularia)

[565] Der gemeine Ohrwurm (Forficula auricularia) ist überall in Europa zu Hause, aber nirgends gern gesehen. Der Gärtner kennt ihn als Zerstörer seiner besten Nelkenblüten und Georginen und setzt Blumentöpfchen oder Hornschuhe von Klauenthieren auf die jenen beigegebenen Stäbe, um ihm einen angenehmen Schlupfwinkel darzubieten, aus welchem er ihn zur Vertilgung herausklopft. Dem Kinde wird der Genuß der Beeren verleidet, wenn ein Ohrwurm nach dem anderen aus dem Dunkel der dicht gedrängten Weintrauben herausspaziert; die Köchin wirft entrüstet den Blumenkohl von sich, wenn beim Abputzen und Zergliedern des Kopfes das braune Ungethüm mit seinen drohenden Zangen an das Tageslicht kommt. Der gemeine Mann meint, er müsse seine Ohren vor ihm schützen, damit er nicht hineinkrieche und das Trommelfell zerkneipe. Aber auf unsere Ohren hat er es trotz seines Namens am wenigsten abgesehen. Es mag vorgekommen sein, daß er dem einen oder anderen Menschen, welcher leichtsinnig genug war, sich in das Gras schlafen zu legen, in das Ohr gekrochen ist, weil er dergleichen dunkle Verstecke liebt. Welche Gefahren bei der eben bezeichneten Unvorsichtigkeit noch von ganz anderen Seiten drohen, wurde schon früher hervorgehoben, und darum setzt sich ihnen der Verständige lieber nicht aus. Der gemeine Oehrling hat eine glänzend dunkelbraune Färbung, welche an den Beinen, den Rändern des Halsschildes und an der Wurzel der funfzehngliederigen Fühler durch Gelb, am Kopfe [565] vorherrschend durch Rostroth ersetzt wird. Auf dem letzten Hinterleibsgliede lassen sich vier Höckerchen unterscheiden. Die Zange des Männchens ist an der Wurzel breitgedrückt und immer gezähnt, dann aber drehrund, zahnlos und stark in ihrer Mitte nach außen gebogen. Die weibliche gleicht einer Drahtzange, indem sich ihre Flügel an der Innenseite berühren und mit den Spitzen sanft nach oben biegen. Die Körpergröße schwankt zwischen 8,75 und 15 Millimeter, von denen die geringeren Maßzahlen immer den Weibchen zufallen.

Der gemeine Ohrwurm überwintert im vollkommenen Zustande, um im nächsten Jahre die Art fortzupflanzen. Sein früheres oder späteres Erwachen in diesem hängt natürlich von der Witterung ab; ich sah schon am 1. Februar ein Männchen bedächtigen Schrittes an einem Baumstamme hinaufwandeln und fand einige Jahre später (1874) am 19. Februar unter Moos auf feuchtem Sandboden ein Häufchen gelblicher Eier und daneben einen weiblichen Ohrwurm. Gehörten beide zusammen, so hatte entschieden der milde Winter die zeitige Ablage befördert. Diese Zusammengehörigkeit war mir aber noch nicht erwiesen und ich nahm daher den Fund mit nach Hause. Die sehr elastischen, vollkommen trocknen Eier mußten mit einem Pinsel aus dem, auf dem Heimwege theilweise getrockneten und daher auseinandergefallenen Sande mühsam ausgelesen werden. Mit dem Sande erfüllte ich nun den Boden eines kleinen Fläschchens, brachte den Ohrwurm hinein und ließ die Eier, zwölf bis funfzehn an Zahl, hineingleiten, welche sich dabei auf der Oberfläche zerstreuten. Jetzt sollte sich entscheiden, ob sich der Ohrwurm als Mutter zu denselben bekennen würde; denn ich hatte gelesen, daß er die zerstreuten Eier auf einen Haufen zusammentrage. Es war Abend, als diese Wohnungsveränderung vor sich ging, und der Ohrwurm viel zu sehr mit der Neuheit seiner Lage beschäftigt, um sich auf andere Dinge einlassen zu können. Am anderen Morgen jedoch lagen die Eier auf einem Häufchen und wurden von der Brust der sorgsamen Mutter bedeckt. In dieser gleichsam brütenden Stellung ließ sie sich fast immer betreffen. Als gelegentlich die Eier durch sehr schiefe Stellung des Gläschens vorherrschend auf die Glaswand gerathen waren, bettete sie dieselben nach der anderen Seite in eine vorher auf dem Sande angebrachte, leichte Vertiefung, kurz, sie zeigte die größte Fürsorge für die Keime ihrer Nachkommen. Sollte etwa Belecken oder sonst welche Beeinflussung auf die Eier deren Entwickelung bedingen?

Die Krone einer frischen Blüte von Primula chinensis, die Weichtheile einer todtgedrückten Fliege, welche von Zeit zu Zeit erneuert wurden, sowie einige weiche Insektenlarven bildeten jetzt und später die gereichte Nahrung, von der die pflanzlichen die merklichsten Zeichen der Benutzung an den Tag legten. Am 7. März zeigten sich die ersten weißen Lärvchen, und bald nachher waren sämmtliche Eier verschwunden. Es sei noch bemerkt, daß ihr kleiner Zwinger in der Fensternähe eines geheizten Zimmers stand und daß ich früher (1866) unter einem platten Steine am 5. Mai eine Alte mit ihren Jungen im Freien angetroffen hatte.

Die Lärvchen krochen öfter unter die Alte, oder auf ihr umher, zeigten jedoch in jeder Beziehung Selbständigkeit und benagten auch bald die Primelblumen. Am 30. März hatte ich den Sand angefeuchtet, und weil die Wassertheilchen nicht schnell genug aufgesogen wurden, mochte der kleinen Gesellschaft der Boden etwas zu feucht sein; denn sie saß an den Wänden des Fläschchens, was ich von einzelnen Larven schon öfter, von der Alten aber bisher noch nie beobachtet hatte. Bei dieser Gelegenheit zählte ich nur sieben Larven von etwas verschiedener Größe. Die kräftigsten maßen ohne Zange 6 Millimeter, eine achte war aus ihrem nicht vollkommen geschlossenem Gefängnisse entwichen und fand sich später im Untersetzer eines benachbarten Blumentopfes. Daß die Alte sich an ihrer Brut vergriffen hätte, war nicht anzunehmen. Degeer hatte seiner Zeit auch eine kleine Ohrwurmfamilie beobachtet und berichtet über dieselbe, daß die Mutter nicht mehr lange gelebt habe und von ihren Nachkommen aufgefressen worden sei, wie sie auch die Leichen derjenigen ihrer Brüder verzehrt hätten, welche zufällig gestorben waren.

Am 21. April gab ich den Pfleglingen eine größere Wohnung, wobei sich nur noch drei Larven vorfanden und der Sand stark durchwühlt erschien, gleichzeitig setzte ich ein hinter Baumrinde [566] aufgefundenes Männchen hinzu. Dasselbe verhielt sich vollkommen theilnahmlos zu der Gesellschaft, welche überhaupt in ihrem Gebahren einen langweilenden Eindruck machte. Nachdem ich einige Tage nicht nach ihr gesehen hatte, fand ich am 19. Mai den vorn verstümmelten Leichnam der Mutter und die nur noch zwei vorhandenen Larven damit beschäftigt, an gleicher Stelle den Körper des todten Männchens anzufressen; auch schienen sie die Häute verzehrt zu haben, die ich früher umherliegen gesehen hatte und jetzt vergeblich suchte. Sie hatten eine Länge von 9 Millimeter mit Ausschluß der Zangen erreicht und schon merklich deutliche Flügelstumpfe. Ich tödtete sie und bewahre sie in meiner Sammlung als Erzeugnisse eigener Zucht auf.

Wir haben in dem gemeinen Ohrwurme – jedenfalls auch in jeder anderen Art – ein weiteres Beispiel neben der Maulwurfsgrille unter den freilebenden und neben der Küchenschabe und dem Heimchen in unseren Behausungen, wo gegen die sonst allgemein geltende Regel bei den Kerfen, daß die Mutter ihre Nachkommen nicht erblickt, diese längere Zeit in deren Gesellschaft verlebt, ohne daß man einen vernünftigen Grund für diese Ausnahmserscheinung bisher hat auffinden können. – Noch zwei bedeutend kleinere und daher wenig bekannte Ohrwurmarten kommen außer den bereits genannten bei uns vor, die jedoch mit Stillschweigen übergangen werden müssen, so anziehend die Lebensweise dieser Familie nach dem bisher Mitgetheilten auch sein dürfte.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 565-567.
Lizenz:
Kategorien: