Großer Ohrwurm (Labidura gigantea)

[564] Der große Ohrwurm (Forficula oder Labidura gigantea) von 11 bis 13 Millimeter Länge mag uns hier im Bilde eine kleine, über die ganze Erdoberfläche verbreitete Familie vergegenwärtigen, welche englische Forscher zu einer eigenen Ordnung erhoben wissen wollen, während Leute, welche es nicht besser verstehen, Käfer daraus machen möchten, was ihnen nicht zu verdenken, da Fueßlin sie noch 1775 als »Zangenkäfer« an das Ende dieser Ordnung stellt. Als ich Mitte Juli auf einer öden Sandfläche in der Nähe von Halle mehrere vereinzelt umherliegende Steine aufhob, fuhr hier und da, durch die plötzliche Helligkeit erschreckt, das abgebildete Thier hervor, um möglichst schnell einen anderen Versteck in der Dunkelheit aufzusuchen, was ihm aber nicht gelang; auch einige kleinere Weibchen und eine Puppe davon kamen zum Vorscheine, und die noch lichte Farbe der Erwachsenen wie letztere lieferten den Beweis, daß die rechte Zeit für die Thiere noch nicht gekommen war. Der Körper war mit Ausnahme der Augen, einer braunen Mittelpartie des Hinterleibes und eines Striemens von gleicher Dunkelheit über jeder Flügeldecke, welche sich mit Unterbrechung auf das Halsschild fortsetzte, lichtgelb gefärbt. Die Zange der Leibesspitze macht jeden Ohrwurm als solchen kenntlich. Dieselbe dient zur Vertheidigung, denn sie kneipen wüthend mit ihr um sich, wenn sie am vorderen Körpertheile erfaßt werden, aber auch gleichzeitig zum Entfalten und Zusammenlegen der Flügel. Wer sich darüber wundern sollte, wenn er hört, daß die Oehrlinge fliegen, der betrachte nur ihren Mittelrücken etwas genauer. Hinter dem Haltsschilde bemerkt man zwei viereckige Platten, offenbar die mehr lederartigen Flügeldecken. Dieselben scheinen einzeln in ein stumpfes Spitzchen von lichterer Farbe auszulaufen, welches auf unserem Bilde sehr deutlich hervortritt. Diese Anschauungsweise beruht aber auf Täuschung. Vielmehr liegen die beiden derben Spitzchen unter jeder der gerade abgestutzten Decken und sind der allein sichtbare Theil der außerordentlich breiten, auf das zierlichste zusammengefaltenen Hinterflügel. Ein jeder derselben besteht aus eben diesem lederartigen Theile an der Vorderrandwurzel und aus einem dreimal so langen, in der Spannung halb ovalen, häutigen Theile. An letzterem wieder läßt sich ein vorderes Feld von der doppelten Breite der Lederschuppe, nach hinten durch eine kräftigere Längsader begrenzt, von dem übrigen, strahlenartig geaderten Stücke unterscheiden. Die acht Strahlen entspringen aus der Hauptader und zwar am Ende der Lederschuppe, wo jene ein Gelenk hat, sind einzeln hinter ihrer Mitte schwach geknickt und mit einem Hornfleckchen versehen; regelmäßig gestellte Queradern stützen die Haut nach der anderen Richtung. Soll nun der Flügel gefaltet werden, so schlägt sich der Hinterrand bis zu den Hornfleckchen der Strahlen nach [564] oben um (erste Lage), dann der so gekürzte Flügel vom vorderen Gelenke aus fächerförmig zusammen (zweite Lage), dieser Fächer unter das breite Stück des Vorderfeldes (dritte Lage), und zuletzt schiebt sich dieses der Länge nach zusammengeklappt unter die allein sichtbare Lederschuppe (vierte Lage). Wer mit Aufmerksamkeit den Flügel eines Oehrlinges entfaltet und wieder zusammenlegt, kann sich bei einiger Vorsicht selbst von der Richtigkeit dieses Faltenlabyrinthes überzeugen, wie es die ausgebreiteten Flügel des gemeinen Ohrwurmes in unserer Abbildung vergegenwärtigen. Was die übrigen Körpertheile anlangt, so ist der freie, etwas geneigte Kopf herzförmig, trägt keine Punktaugen, an den Seiten aber runde Netzau gen, unter denen sich die zwölf- bis vierziggliederigen Fühler einlenken. Die Mundtheile weichen im wesentlichen nicht von denen der vorangegangenen Geradflügler ab, nur daß das große, viereckige Kinn fast die ganze Unterseite des Kopfes deckt und die Unterlippe bloß aus zwei gerundeten Lappen besteht. Den meist am letzten Ende etwas breiter werdenden Hinterleib, welcher sich seitlich rundet, setzen neun Glieder zusammen, jedoch verkümmern davon beim Weibchen zwei vollständig und das letzte am Bauche.


Männchen des großen Ohrwurmes (Forficula gigantea) und des gemeinen (Forficula auricularia) in fliegender Stellung. Natürliche Größe.
Männchen des großen Ohrwurmes (Forficula gigantea) und des gemeinen (Forficula auricularia) in fliegender Stellung. Natürliche Größe.

Die zahlreichen Arten unterscheiden sich an den Zangen, welche sogar für die Geschlechter derselben Art abändern, an den Fußgliedern, der vollkommeneren oder mangelhaften Flügelbildung, der Form des Rückenschildes und anderen Merkmalen, und wurden neuerdings auf eine Reihe von Gattungen vertheilt. So hat man beim großen Ohrwurme auf die abgebildete Form der männlichen Zange und den Zahn hinter ihrer Mitte Rücksicht zu nehmen. Bei der bedeutend kürzeren weiblichen Zange sind die Flügel am Grunde genähert und gezähnelt, aber ohne Zahn hinter der Mitte. Die Fühler bestehen aus siebenundzwanzig bis dreißig Gliedern. Diese interessante Art kommt hier und da vereinzelt in Europa (Deutschland, England usw.), aber auch in Vorderasien und im Norden von Afrika vor.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 564-565.
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