Padicour-Ameise (Eciton canadense)

[269] Bar hatte Gelegenheit in Guayana, nahe beim Sinnamaryflusse, die Kreuzung zweier Ameisenzüge zu beobachten, von denen der eine aus der sogenannten Padicour-Ameise (angeblich Eciton canadense Ltr.), der andere aus der Visitenameise gebildet wurde. Jene waren auf der Wanderschaft begriffen, diese nur bei ihrer täglichen Beschäftigung, Blätter von den Bäumen zu schneiden, und gingen beladen und leer geschäftig hin und her. Die Ecitons hatten einen Kanal gefunden, der von einem Stück Holz gebildet wurde, die Visitenameisen gingen unter demselben weg und alles war in bester Ordnung. Wir setzten uns nieder, um das Benehmen dieser beiden so verschiedenen Arten zu beobachten, die in uns die Vorstellung zweier ganz verschieden gebildeter Menschenklassen hervorriefen. Auf Seiten der Visitenameisen war große Kraft; gewisse von ihnen wandelten daher, schwer beladen mit Blattstückchen, die zehnmal größer als sie selbst waren, wobei sie sich oft an Hindernisse im Wege stießen und zuweilen umpurzelten; immer aber erhoben sie sich wieder und setzten ihren Weg ruhig fort, ohne ihre Last loszulassen. Nichts war in der That bewundernswürdiger, als die wirklich gewissenhafte Art, mit welcher diese Ameisen ihre mühevolle Bestimmung erfüllten. Bei den anderen herrschte eine Lebhaftigkeit, Geschicklichkeit, Umsicht, welche wir aus dem häufigen Tasten mit den Fühlern erkannten; zahlreiche Ameisen, die einen an die anderen geklammert, füllten die zu tiefen Höhlen aus und glätteten den Weg. Ein boshafter Gedanke kam uns in den Sinn; wir nahmen das Stück Holz weg, auf dem die Ecitons herumspazierten. – Große Verwirrung! Die Individuen mit den großen Kinnbacken, welche eine Art von Ansehen zu genießen schienen, drehen sich von einem Rande zum anderen, gehen, kommen; die anderen halten an vor dem Hindernisse, welches ihnen die Visitenameisen bereiten. Aber, o Glück, man bemerkt einige Centimeter entfernt ein Stück Holz, so dick wie eine Federspule; man benutzt es; es ist zu dünn, der Steg zu schmal. Aber dieses Hindernis dauert nicht lange: eine, zwei, zwanzig, funfzig Ameisen umklammern sich von jeder Seite in zwei Reihen, der Weg ist breiter geworden, die Kolonne überschreitet diese lebende Brücke, lange Zeit ohne Zweifel, denn die Minuten zählten wir nicht, ohne daß die unerschrockenen Pontoniere müde erschienen wären. Wir zerstörten diese neue Brücke, um zu sehen, wie weit der Muth und die Umsicht der einen sowie die Ausdauer und Hartnäckigkeit der anderen gehen würde. Neue Verwirrung! Leider gab es kein anderes Stück Holz in der Nähe, um die Brücke zu ersetzen. Die Verwirrung wird immer größer. Eine zusammengeballte Menge Ecitons hält an vor der Schar der Oecodoma, welche sie, auf die Gefahr hin, abgeschnitten zu werden, passiren müssen. Hierzu sind sie schnell entschlossen. Dreißig [269] oder mehr machen einen Einfall – die Unordnung erreicht ihren höchsten Gipfel. Die dicksten Oecodoma, welche durch ihre mächtigen Lasten stärker waren, setzten ihren Weg fort, aber die kleinsten wurden über den Haufen geworfen. Obgleich umgestürzt, bilden sie immer noch ein Hindernis. Plötzlich, wie auf ein gegebenes Zeichen, stürzt sich eine Menge der Ecitons über einen Raum von zwanzig bis dreißig Centimeter heran, klammert sich an der Erde mit den langen Beinen in mehreren Reihen an, andere kommen auf die ersten, bilden ein zweites, dann ein drittes Stockwerk und zugleich sind zwei Mauern in einem Abstande von 5 bis 6 Centimeter aufgebaut. Dann geht die Kolonne im Triumph hinüber, während sich die Visitenameisen nach allen Richtungen zerstreuen, ohne sich wieder sammeln zu können. Wir hatten ein Schauspiel vor Augen, das für einen Beobachter erhaben ist, und unsere Freude übertraf alles, was man denken kann. Ohne daß wir es gemerkt, waren die Stunden verronnen, und mit Staunen bemerkten wir, daß nicht nur die Sonne für die Bewohner von Guayana am Ende ihrer Bahn angelangt war, sondern auch, daß dichte Wolken den Himmel überzogen und mit einem Regengusse droheten. In wenigen Minuten jagte auch wirklich ein heftiger Regenguß die Beobachter und die Ameisen in die Flucht.


Visitenameise (Oecodoma cephalotes). a Männchen, b Weibchen, kleine und große Arbeiter; alle in natürlicher Größe.
Visitenameise (Oecodoma cephalotes). a Männchen, b Weibchen, kleine und große Arbeiter; alle in natürlicher Größe.

Es war Nacht, als wir unseren Schooner erreichten.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 269-270.
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