Bergeidechse (Lacerta vivipara)

[169] Neben der Zauneidechse tritt in vielen Gegenden unseres Vaterlandes auch die Berg- oder Waldeidechse (Lacerta vivipara, Lacerta crocea, pyrrhogastra, aedura, montana, chrysogastra, Jaquinii, Schreibersiana, nigra und atra, Zootoca vivipara, montana, crocea, pyrrhogastra, Guerinii, Atropis nigra) auf. Wagler hat sie zur Vertreterin einer besonderen Sippe, der Gebäreidechsen (Zootoca), erhoben, weil ihr die Gaumenzähne fehlen und kleine unregelmäßige Schilder, in deren Mitte nicht selten ein größeres sich abhebt, ihre Schläfe decken; die neueren Thierkundigen legen auf diese Merkmale jedoch nicht so erhebliches Gewicht, daß sie die versuchte Trennung gutheißen sollten. Die Länge der Bergeidechse beträgt fünfzehn bis sechzehn Centimeter, wovon der an der Wurzel gleichmäßig dicke Schwanz reichlich die Hälfte wegnimmt. Kopf, Leib und Zehen sind etwas zarter und feiner gebaut als bei der Zauneidechse. Im Zwischenkiefer stehen sieben, im Oberkiefer jederseits sechzehn, im Unterkiefer sechzehn bis einundzwanzig Zähne. Die Schuppen des Hinterrückens sind schwach gekielt, die des Halsbandes leicht gekerbt, die des Bauches in sechs Mittellängsreihen geordnet, zu denen jederseits noch eine Reihe von Schildern hinzugezählt werden muß, welche von einzelnen Forschern nicht als Bauchschilder angesehen werden, weil sie denen der Seiten fast gleichen. Die Grundfärbung der Rückenseite ist ein mehr oder minder dunkles Braun, welches deutlicher oder undeutlicher ins Schieferfarbene ziehen kann, stets aber auf der Rückenmitte und auf jeder Seite dunklere Streifen bildet. Letztere ändern vielfach ab, werden oberhalb von einer lichtgrauen Linie oder von einzelnen weißen Schuppenflecken begrenzt, nehmen dunkle Punkte oder Augenflecken in sich auf, zeigen aus diesen zusammengeflossene Längsstreifen usw. Die Unterseite ist auf bräunlich oder bläulich grauem, safrangelbem oder gelblich weißem Grunde schwarz gepunktet, die Kehle bläulich, nicht selten aber förmlich rosenroth. Das Männchen unterscheidet sich durch größere Schlankheit, flacheren Kopf, die geschwollene Schwanzwurzel und gewöhnlich auch durch lebhaftere Färbung und Zeichnung von dem Weibchen.

Das Verbreitungsgebiet der Bergeidechse umfaßt weitaus den größten Theil Europas und erstreckt sich außerdem über ganz Nordsibirien. Sie fehlt, wie es scheint, nur dem äußersten Süden unseres Erdtheils, dringt aber nach Norden hin weiter als alle übrigen Arten ihrer Familie vor, findet sich, nach Nilsson, in namhafter Anzahl in Mittelskandinavien und steigt an den Fjelds bis zum Birkengürtel empor, lebt, nach Bärmann, sogar noch in der Nähe von Archangel und ist in den Alpen bis zu dreitausend Meter über dem Meere beobachtet worden. In solchen Höhen wie im Norden bringt sie drei Viertheile des Jahres winterschlafend zu und erfreut sich kaum mehr als zwei, höchstens drei Monate ihres Daseins. In unserem Vaterlande fehlt sie hier und da gänzlich, tritt aber an anderen Orten häufig auf, so insbesondere in Gebirgsgegenden und Mooren. [169] Auf der Schwäbischen Alb, dem Thüringer Walde, Harze, Glatzer Gebirge ist sie ebenso häufig wie in den Alpen, auf den Dünen Hollands, Belgiens und Nordfrankreichs nicht minder gemein als auf moorigen Stellen Brandenburgs, den Heiden Hannovers und Jütlands oder im südlichen Theile der Tundren Rußlands. Gredler bemerkt sehr richtig, daß sie mit Vorliebe in der Nähe von Wasser lebt, »so auf Gebirgen in Rünsten, an Bergbächen, auf oder an Wasserleitungen, zu Thal aber auf feuchten Wiesen, in Mooren und an Dämmen«. Dies gilt für Tirol wie für Brandenburg oder Schlesien, wo ich sie beobachtet habe. Nicht mit Unrecht nennt Fitzinger sie Sumpfeidechse.

In ihrer Lebensweise, ihren Bewegungen und ihrem Wesen unterscheidet sich die Bergeidechse nicht erheblich von der verwandten Zauneidechse. Doch ist sie minder gewandt und klettert seltener, schwimmt dagegen öfter und leichter als diese.


Bergeidechse (Lacerta vivipara). Natürliche Größe.
Bergeidechse (Lacerta vivipara). Natürliche Größe.

Auf höheren Gebirgen soll sie merklich träger und langsamer sein als in der Tiefebene. Vor dem Menschen scheut sie sich wenig. Im Hochgebirge zeigt sie, laut Gredler, wenn ihr Zufluchtsort durch Abrollen der Steine plötzlich aufgedeckt wurde, in der Regel keine Neigung zu entfliehen; in den Mooren läßt sie sich ebenfalls leichter fangen als jede andere Art.

Entsprechend ihrem Vorkommen in nördlichen Ländern und auf hohen Gebirgen, erscheint die Bergeidechse im Frühjahre so zeitig, als es die Witterung irgend gestattet, in den warmen Ebenen also jedenfalls vor der Zauneidechse, im Norden ihres Verbreitungsgebietes wie auf den Gebirgen nicht vor dem Mai.

Hiermit vielleicht in Beziehung, nicht aber im Einklange, steht, daß die Zeit, in welcher sie ihre bereits im Mutterleibe gezeitigten Eier legt oder ihre Jungen zur Welt bringt, sehr verschieden ist. Mejakoff sah im wologdischen Gouvernement schon am neunundzwanzigsten Juni Junge und fand noch am ersten August trächtige Weibchen. Möglicherweise gebären ältere Weibchen früher als jüngere; möglicherweise beeinflußt die in einem Jahre herrschende Witterung das Fortpflanzungsgeschäft in erheblicher Weise. Im südlichen Deutschland gebären die Bergeidechsen durchschnittlich [170] Ende Juli, und zwar immer des Nachts, ihre acht, höchstens zehn Jungen. Der Hergang bei der Geburt, welchen zuerst Mejakoff genau beobachtete, ist folgender: Das Weibchen zeigt sich vor dem Gebären sehr unruhig, kratzt den Boden auf, drückt sich von Zeit zu Zeit an harte Gegenstände, rollt den Schwanz ein, als ob es ihn auf den Rücken legen wollte, wird später, manchmal erst nach Tagen, ruhig, stellt sich endlich abends breit auf die Füße, streckt sich, als ob es sich entleeren wolle, und gebiert wenige Augenblicke später, anscheinend ohne Anstrengung und Schmerzen, das erste, regelmäßig noch in der Eischale eingehüllte Junge. Ungefähr zwei Minuten später folgt das zweite Ei, und so fort. Nach jedesmaligem Legen schreitet die Alte einige Schrittchen vor, so daß die Eier, welche zunächst vom Schwanze bedeckt werden, in eine Reihe zu liegen kommen. Inzwischen strengen sich die Jungen an, die Eihülle zu sprengen, und ehe eine halbe Stunde vergeht, sind sie derselben entronnen. Die Mutter scheint ihnen nicht die geringste Theilnahme zu schenken, sondern läuft auf und davon, sobald sie das letzte Ei gelegt hat. Kehrt sie später zufällig zu den Eischalen zurück, so frißt sie von denselben auch wohl, was freßbar ist. Die Jungen bringen die ersten Tage ihres Lebens in vollständiger Unthätigkeit zu, liegen mit eingerolltem Schwanze schlafend in Ritzen und Spalten des Bodens, scheinen vollkommen taub zu sein, zeigen sich aber gegen die leiseste Berührung empfindlich und versuchen auf eine solche hin zu entfliehen. Sie wachsen, auch ohne Nahrung zu nehmen, auffallend rasch: solche, welche bei der Geburt funfzehn Millimeter lang waren, hatten nach zwanzig Tagen eine Länge von siebenundzwanzig Millimeter erreicht. Leydig ernährte sie mit Blattläusen, welche sie begierig verzehrten.

Die Eihaut kann, nach Beobachtungen des letztgenannten Forschers, schon innerhalb der Gebärmutter gesprengt werden, und es findet dann ein wirkliches Lebendiggeborenwerden statt. »Sieht man«, schließt Leydig, »die aus der Mutter herausgekommenen acht bis zehn Jungen beisammen, so begreift man kaum, wie eine solche Anzahl wohlentwickelter Eidechsen in dem zarten, kleinen Weibchen Platz finden konnte.«

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 169-171.
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