Ringschmuckotter (Callophis annularis)

[408] Bei einer zweiten Art, der Ringschmuckotter (Callophis annularis), ist die Oberlippe mit sechs Schildern gedeckt, und sind Kopf und Hals oberseits schwarz, ebenfalls mit einem breiten, gelben Querbande hinter dem Auge geschmückt, Leib und Schwanz röthlichbraun, ohne regelmäßiges Mittelband, aber mit vierzig schmalen, schwarzen, weißgesäumten, in gleichem Abstande befindlichen Ringen gezeichnet, von denen jeder ungefähr ebenso breit als eine Rückenschuppe lang ist und gerade ein Bauchschild einnimmt. Die gelbe Unterseite zeigt schwarze Querbänder je in der Mitte zwischen den Ringen, welche ebenfalls gerade ein Bauchschild einnehmen, so daß ungefähr ein Drittheil der ganzen Unterseite schwarz gefärbt ist. Die Länge beträgt zwei bis drei Centimeter mehr als bei der vorstehend beschriebenen Verwandten.

Die Schmuckottern, welche sich in hohem Grade ähneln, leben in besonderer Häufigkeit auf dem indischen Festlande, werden hier mindestens zahlreicher gefunden als auf den benachbarten großen Eilanden. In ihrer Lebensweise ähneln sie auffallend den Zwergschlangen, mit denen sie nicht [408] allein dieselben Oertlichkeiten bewohnen, sondern auch insofern in engster Beziehung stehen, als sie vorzugsweise, wenn nicht ausschließlich, von ihnen sich nähren. Beide Gruppen haben genau dieselbe Verbreitung, und die Giftschlangen hängen so unbedingt von ihrer Beute ab, daß sie da fehlen, wo jene nicht gefunden werden, so beispielsweise auf Ceylon. Falls ein Schluß von der Anzahl der in unsere Sammlungen gelangenden Schlangen beider Gruppen auf ihr Vorkommen in der Freiheit erlaubt ist, darf man, laut Günther, sagen, daß die Zwergschlangenarten ungefähr doppelt so zahlreich auftreten als die mit ihnen in denselben Gegenden lebenden Schmuckottern.


Masken- und Ringschmuckotter (Callophis Maccellandii und Callophis annularis). 1/2 natürl. Größe.
Masken- und Ringschmuckotter (Callophis Maccellandii und Callophis annularis). 1/2 natürl. Größe.

Nach Cantors Erfahrungen sind letztere nicht gerade häufig; doch kann man sie ebensowenig selten nennen. Sie sind Erdschlangen im vollsten Sinne des Wortes, welche unter Baumwurzeln, Steinen und in Felsspalten Zuflucht suchen, sehr träge zu sein scheinen und ihren langen, schlanken Leib in ungeschickter Weise bewegen, gewöhnlich aber regungslos mit vielfach gebogenen, jedoch nicht zusammengerolltem Leibe auf dem Boden liegend gefunden werden. Ob gleich man sie als Tagschlangen bezeichnen muß, scheint doch ihr Gesicht, im Einklange mit dem außerordentlich kleinen Augensterne, ebenso schwächlich zu sein wie ihr Gehör; wenigstens kann man dicht an sie herantreten, ohne daß sie irgend eine Regung von Furcht bekunden. Berührt man sie mit einem Stocke, so strengen sie sich heftig an, um wegzugleiten, bleiben aber bald wieder liegen, und wenn man sie noch ferner verfolgt, bewegen sie sich in höchst unregelmäßiger, förmlich krampfhafter Weise, schicken sich aber niemals zu beißen an. Nur bei einer einzigen Gelegenheit sah Cantor eine dieser Schlangen ihr Haupt etwa vier Centimeter über den Boden erheben. In Gefangenschaft verschmähen sie Futter und Wasser und verschmachten in kurzer Zeit. In den Magen einer größeren Anzahl, welche Cantor untersuchte, fand er nur einmal die Ueberreste einer kleinen Schlange, welche er nicht mehr bestimmen konnte, Schlegel dagegen in den Magen anderer noch bestimmbare Zwergschlangen.

Einzig und allein die Enge des Maules läßt diese Schlangen harmlos erscheinen; denn die Wirkung ihres Giftes ist verhältnismäßig ebenso kräftig wie die anderer Mitglieder ihrer Familie, [409] und diejenigen Arten, bei denen die Giftdrüse eine so ungewöhnliche Entwickelung erlangt, dürften, trotz ihrer sehr kleinen Fänge, in hohem Grade gefährliche Bisse beibringen können. Aber auch die übrigen sind noch wohl im Stande, ein größeres Thier zu tödten. Nach verschiedenen erfolglosen Versuchen, Schmuckottern zum Beißen zu reizen, preßte Cantor die Gifthaken einer von ihnen in die emporgezogene Hautfalte am Schenkel eines Huhnes. In Rücksicht auf das enge Maul und die Schwierigkeit, mit welcher der Versuch ausgeführt werden konnte, erschien es zweifelhaft, ob der Giftzahn die Haut durchdrungen habe, und die Schlange wurde deshalb nach einer Viertelstunde in derselben Weise genöthigt, das Huhn unter dem rechten Auge zu verwunden. Zwanzig Minuten später bekundete letzteres die ersten Anzeichen der Vergiftung, entleerte sich, hob auch unter nicht zu verkennenden Schmerzäußerungen das zuerst verwundete Bein und zog es fortan dicht an den Leib. Achtundzwanzig Minuten nach dem ersten Bisse, welcher kaum sichtbare Wunden hinterlassen hatte, brach der Vogel zusammen, versuchte wiederholt aber vergeblich, sich zu erheben; zehn Minuten später traten Krämpfe ein, der Augenstern zog sich zusammen, die Vergiftungserscheinungen währten fort, und mit Ablauf der Stunde trat der Tod ein. Andere Hühner, welche von Schmuckottern gebissen wurden, starben unter ähnlichen Zeichen in einem Zeitraume von achtzig Minuten bis drei Stunden. Aber auch alle bei diesen Versuchen gebrauchten Schlangen gingen infolge der ihnen angethanen Gewalt bald darauf zu Grunde.


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 408-410.
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