5. Sippe: Schildottern (Naja)

[416] Der Leib der Hutschlangen oder Schildottern (Naja) ist lang gestreckt und rundlich, in der Mitte etwas verdickt, unten platt, der einer bedeutenden Verbreiterung fähige Hals in der Ruhe wenig vom Kopfe abgesetzt, dieser selbst klein, länglich eiförmig, ziemlich flach, im ganzen dem der Nattern sehr ähnlich, der Schwanz langkegelig und zugespitzt, das Auge mäßig groß und rundsternig, das Nasenloch weit, seitlich je zwischen zwei Schildern gelegen. Die Bedeckung des Kopfes besteht aus großen, regelmäßigen Schildern. Zügelschilder fehlen; Voraugenschilder sind zwei, Nachaugenschilder drei, zuweilen auch zwei oder vier vorhanden; die Oberlippe wird mit sechs Schildern bekleidet, von denen der dritte und vierte an der Augenumrandung theil nimmt. Die übrige Bekleidung bildet in schiefe Reihen geordnete kleine Schuppen auf dem Halse und ebenso gestellte rautenförmige auf der Oberseite des übrigen Leibes, während die Unterseite große, einreihige, erst am Schwanzende in Paare sich theilende Schilder zeigt. Die Mundöffnung ist verhältnismäßig weit; das Gebiß zeigt hinter den mittellangen, gefurchten Gifthaken zwei bis drei glatte, derbe Zähne.

Wer ein einziges Mal eine Schildotter gesehen hat, wenn sie, durch den Anblick eines Gegners, insbesondere eines Menschen, erschreckt und gereizt, sich erhoben, das vordere Drittheil ihres Leibes emporgereckt, den Schild gebreitet hat und nun langsamer oder schneller in dieser majestätischen Haltung, zum Angriffe oder mindestens zur Abwehr gerüstet, auf den Gegenstand ihres Zornes zuschlängelt, vorn unbeweglich wie eine Bildsäule sich haltend, hinten jede einzelne Muskel anstrengend, und wer da weiß, daß ihr Biß ebenso tödtlich wirkt, wie der der Lanzen-oder Klapperschlange: begreift, daß sie von jeher die Aufmerksamkeit des Menschen erregen mußte, versteht warum man ihr göttliche Ehre erzeigte und sie benutzte, mit dem Wesen und den Eigenthümlichkeiten der Schlange nicht vertraute Menschen zu täuschen. Ein in seinem Bau und Wesen so eigenthümliches Geschöpf mußte die Beachtung jedes Denkenden auf sich ziehen, und die Erfahrung von der tödtlichen Wirkung ihres Bisses es dem herrschsüchtigen Priester oder dem pfiffigen Betrüger leicht machen, dieses Thier als Abbild und Vertreter einer Gottheit auszugeben. Das Wunder beginnt, wo das Verständnis aufhört!

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 416.
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