Sipo (Herpetodryas carinatus)

[382] In den Waldungen Brasiliens und Guayanas lebt eine zu dieser Sippe zählende Art, der Sipo (Herpetodryas carinatus, Coluber carinatus, bicarinatus, fuscus, exoletus, [382] pyrrhopogon, saturnius und laevicollis, Natrix bicarinata und sexcarinata, Tyria quadricarinata), eine wegen ihrer vielfach wechselnden Färbung unter sehr verschiedenen Namen beschriebene Baumschlange von über zwei Meter Länge und prächtigem Aussehen, möge die Schattirung ihrer Färbung sein, wie sie wolle. Nach der an Ort und Stelle aufgenommenen Beschreibung des Prinzen von Wied sind die oberen Theile von einem schönen, sanften, etwas dunklen Zeisig- oder Olivengrün, welches auf dem Rücken ins Bräunliche spielt, die unteren Theile grünlich oder hochgelb, wobei zu bemerken, daß erstgenannte Färbung gewöhnlich auf dem Bauche, letztere auf der Unterseite des Kopfes, der Kehle, des Halses und des Schwanzes vorherrscht. Die grüne Färbung spielt in allen Schattirungen bis zum glänzenden Metallbraun; es finden sich auch gewöhnlich dunklere, paarweis gestellte Längsstreifen, nach Dumeril sechs bis zwölf an der Zahl.


Sipo (Herpetodryas carinatus). 1/4 natürl. Größe.
Sipo (Herpetodryas carinatus). 1/4 natürl. Größe.

Der Sipo ist nach den Beobachtungen des Prinzen von Wied in Brasilien nächst der Korallenschlange eine der gemeinsten Arten der Ordnung und kommt namentlich bei Rio de Janeiro, Cabo Frio, Campos des Goaytacases, am Parahyba und zu Capitania am Espirito Santo vor und belebt vorzugsweise die auf sandigem Boden stehenden Gebüsche unweit des Meeres. Hier [383] beobachtete unser Naturforscher außerordentlich große Stücke, solche von zwei bis drei Meter Länge und vier bis sechs Centimeter Dicke im Durchmesser. Den sandigen Boden scheint diese Schlange besonders zu lieben, ebenso feuchte und sumpfige Strecken in der Nähe des Meeres, welche mit Binsen, Sumpfgras, Rohr und ähnlichen Gewächsen bestanden sind und an unsere Wiesen erinnern. Hier findet man sie häufig in Gebüschen, wo aufrechte, weiß blühende Trompetenbäume und die steifen und breitblätterigen Clusien wachsen, gewöhnlich auf den Bäumen, und zwar auf den Blättern oder dicken Aesten ruhend, nicht selten jedoch auch auf dem Boden. Kommt man ihr nahe, so eilt sie so schnell davon, daß man ihr kaum folgen kann, am schnellsten im Grase, etwas langsamer über den freien Sand. Hensel glaubt, daß der Sipo in Südbrasilien vielleicht nicht so selten sei, als es den Anschein habe, sich aber durch seinen Aufenthalt unter Hecken, in Wäldern, den Blicken entziehe und durch seine unglaubliche Schnelligkeit allen Nachstellungen entgehe. »Mit einer blitzähnlichen Geschwindigkeit besteigt die Schlange die Hecken und schwingt sich durch ihre Gipfel fort, so daß die Erzählungen, sie nähre sich von Vögeln, nicht unglaubwürdig erscheinen.« Den schlanken Hals fand der Prinz oft durch große Kröten außerordentlich weit ausgedehnt; es scheint also, daß sie sich hauptsächlich von Lurchen nährt. Die Paarzeit fällt in den Oktober.

Man hält diese Schlange selbst in Brasilien für unschädlich; trotzdem sahen die Leute mit Grausen zu, wenn der Prinz und seine Begleiter das schöne, glatte Thier mit den Händen griffen. Im äußersten Nothfalle setzt sich der Sipo übrigens gegen den Menschen zur Wehre, wie aus nachstehender Mittheilung Schomburgks hervorgeht: »Auf einem meiner Jagdausflüge sah ich eine zwei Meter lange Schlange in langsamem Laufe mir entgegenkommen; noch aber war die Entfernung von mir zu groß, um unterscheiden zu können, ob es eine giftige oder nichtgiftige sei. Beide Läufe meines Doppelgewehres waren geladen; ich lege an, schieße ab, und in krampfhaften Windungen dreht sich das Thier im Kreise herum; ein Flattern in den Zweigen des Baumes, unter dem ich stand, zieht meine Aufmerksamkeit dorthin – zwei schöne, mir unbekannte Papageien, welche in dem Schatten derselben gesessen und durch den Schuß aufgeschreckt worden waren, setzten sich bald wieder auf die äußerste Spitze eines Zweiges nieder. Die Schlange schien tödtlich verwundet, und der noch geladene Lauf brachte einen der beiden Vögel herab. Jetzt sehe ich, daß sich jene mühsam nach einem dichten Gesträuche hin wendet, in dem sie während des Ladens verschwindet. Vergebens suche ich sie mit dem geladenen Gewehre in der Hand wieder auf; ich muß näher herantreten: als mir plötzlich, gleich einem Pfeile, das verwundete Thier, welches meine Annäherung bemerkt und sich zum Sprunge bereit gemacht hatte, gegen die Achsel springt und mich einen gewaltigen Satz rückwärts thun läßt. Noch starr vor Schrecken, ohne zu wissen, ob ich verwundet war, sah ich das Thier sich abermals zum Sprunge rüsten, dem aber noch zur rechten Zeit ein glücklicher Schuß zuvorkam. Bei näherer Besichtigung fand ich mich ebensowenig verwundet wie in meinem wüthenden Feinde eine giftige Schlange, sondern nur den unschädlichen Sipo.«

Die Unterfamilie der Baumschlangen (Dendrophinae), welche Günther zu einer besonderen gleichnamigen Familie (Dendrophidae) erhebt, kennzeichnender sehr gestreckte und schlanke, seitlich zusammengedrückte Leib und der entsprechend gebildete Schwanz, der gewöhnlich verlängerte, schmale, flache, von dem dünnen Halse trotzdem deutlich abgesetzte Kopf mit sehr langer, vorn abgestumpfter oder zugerundeter Schnauze und weit gespaltenem Rachen, die mäßig oder merklich großen, rundsternigen Augen und die seitlich gelegenen Nasenlöcher. Die Beschilderung des Kopfes bietet nichts auffälliges; die Bekleidung des Leibes dagegen besteht aus sehr schmalen, ziemlich weit sich deckenden Schindelschuppen, die des Bauches aus doppelt gekielten, daher an den Seiten aufgeworfenen Schildern, die der Unterseite des Schwanzes aus solchen, welche in zwei Reihen geordnet sind. Im Gebiß tritt keiner der Zähne durch besondere Größe hervor.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 382-384.
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