Sechste Familie: Nattern (Colubridae)

[338] Linné vereinigte alle ihm bekannten Schlangen in drei Familien, welche er mit den Namen Grubenottern, Riesenschlangen und Nattern bezeichnete. Mit dem letzteren Namen umfassen wir gegenwärtig noch immer die artenreichste Schlangengruppe, beschränken uns jedoch auf eine Reihe von Sippen derjenigen giftlosen Schlangen, welche sich von den Stummelfüßlern durch das Nichtvorhandensein der Afterstummeln, die eigenthümliche Beschilderung, und den Bau des Auges, welches einen runden Stern hat, hinlänglich unterscheiden.

Alle Nattern (Colubridae) kennzeichnen sich durch schlanken, allerwärts in gleichem Grade biegsamen Leib, von dem sich der kleine, längliche, wohlgestaltete Kopf deutlich absetzt, und dessen Schwanz in eine lange Spitze ausläuft, sowie durch ihre aus glatten oder gekielten Schindelschuppen und auf der Unterseite aus Schildern bestehende Bedeckung, endlich auch dadurch, daß die Schilder am Kinne durch eine Furche getrennt werden und am Schwanztheile in zwei Reihen sich ordnen. Zahlreiche Zähne bewaffnen beide Kiefer und den Gaumen; unter ihnen treten aber weder vorn, noch in der Mitte des Kiefers einzelne durch ihre Größe hervor. So kann man sagen, daß die Nattern diejenigen giftlosen Schlangen sind, welche die regelmäßigste Gestalt und Bildung der einzelnen Theile zeigen oder durch kein hervorstechendes Merkmal besonders sich hervorthun. Wohl aber zeichnen sie sich vor vielen anderen Schlangen aus durch ihre Beweglichkeit, Munterkeit und verhältnismäßige Klugheit, so daß man sie in gewisser Hinsicht vielleicht als die höchststehenden Schlangen bezeichnen, den Riesenschlangen mindestens kaum nachstellen darf.

Die Nattern, von denen man über dritthalbhundert Arten unterschieden hat, verbreiten sich über die ganze Erde, da sie, wenn auch spärlich, noch bis gegen den Polarkreis hin und auch in Australien wie auf den Eilanden des Stillen Meeres mindestens in einigen Arten gefunden werden. Ihr Aufenthalt ist sehr verschieden. Viele Arten lieben feuchte Gegenden und Gewässer; andere hingegen suchen mehr trockene Oertlichkeiten auf. Alle bis jetzt bekannten sind, wie schon der Bau ihres Auges vermuthen läßt, vorwiegend Tagethiere, welche mit Einbruch der Nacht nach ihrem Schlupfwinkel sich zurückziehen und in ihm bis zu den Vormittagsstunden des nächsten Tages verweilen. In ihrer Lebensweise unterscheiden sich die verschiedenen Arten nicht unwesentlich, da ja schon der Aufenthalt hierauf einen bedeutenden Einfluß ausübt; doch haben sie andererseits auch wiederum vieles mit einander gemein. Sie sind schnelle und bewegungsfähige Thiere, schlängeln sich verhältnismäßig rasch auf dem Boden fort, schwimmen, zum Theil mit überraschender Fertigkeit, klettern auch mehr oder weniger gut, einzelne von ihnen vorzüglich.

Ihre Nahrung besteht hauptsächlich aus kleinen Wirbelthieren aller Klassen, insbesondere aus Kriechthieren und Lurchen; einzelne stellen jedoch auch kleinen Säugethieren, andere kleinen [338] Vögeln und mehrere entsprechend großen Fischen eifrig nach. Wirft man unter die gemischte Nattergesellschaft eines Schlangenkäfigs verschiedenartige Nährthiere, wie sie den Gewohnheiten und Wünschen der bunten Genossenschaft entsprechen, so kann man in aller Bequemlichkeit beobachten, wie die eine Natterart diese, die andere jene Beute ins Auge faßt, verfolgt, ihrer sich bemächtigt und sie verzehrt. Keine einzige mir bekannte Natter lauert auf ein zufällig an ihr vorüberkommendes Opfer, sondern jede jagt auf das von ihr gesehene Thier, schleicht an dasselbe heran oder verfolgt es in eiligem Laufe, bis sie es gepackt hat. Dabei wird bemerklich, daß diejenigen Arten, welche Frösche oder Fische fressen, dieselben ohne weitere Vorbereitungen, die Frösche oft mit den Hinterbeinen, die Fische stets mit dem Kopfe voran, verschlingen und hinabwürgen, wogegen diejenigen, welche Eidechsen, Vögeln oder Säugethieren nachstreben, ihr Wild immer zunächst erdrosseln und dann erst verzehren. Schlangen, die nächsten Verwandten nicht ausgeschlossen, werden von den Nattern ebenso behandelt wie die Fische und so rasch verschlungen, daß man sie retten kann, wenn man rechtzeitig eingreift, sie am Schwanze packt und wieder aus Schlund und Magen ihrer Feindin zieht: eine von der nordamerikanischen Schwarznatter bereits bis auf die Schwanzspitze hinabgewürgte Kettennatter, welche ich in dieser Weise dem Lichte der Welt zurückgab, lebte, dem Profeten Jonas vergleichbar, noch mehrere Jahre nach ihrer Errettung aus dem Schlunde ihrer gefährlichen Verwandten. Die größten Arten der Familie erweisen sich als ebenso tüchtige wie unternehmende Räuber. Eine in Nordamerika lebende Art, die Bergnatter (Elaphis alleghaniensis) nährt sich, laut Matthes, von Mäusen, Ratten, Eichhörnchen, jungen Hasen, Vögeln und deren Eiern, ebenso auch von Schlangen, Eidechsen und Fröschen. Um die Nester von Vögeln und Eichhörnchen zu erreichen, erklettert sie die höchsten Bäume, um junge Hasen zu erbeuten, kriecht sie in Erd- oder Baumlöcher. Besondere Vorliebe aber bekundet sie für Eier, erscheint daher als unliebsamer Gast auf den Gehöften, wo Hühner gehalten werden, untersucht die Ställe, verschlingt einzelne Eier, wo sie solche findet, auf der Stelle, kriecht sogar, unbekümmert um die ihr werdenden Schnabelhiebe, unter brütende Glucken, legt sich um die Eier, wartet bis die Henne sich beruhigt hat und verschluckt nunmehr ein Ei nach dem anderen. Ist der Hunger gestillt, so bleibt sie ruhig unter der Henne liegen; setzt diese ihr zu heftigen Widerstand entgegen, so jagt sie die Glucke vom Neste. Matthes versichert, gesehen zu haben, wie eine Bergnatter, unbekümmert der Gegenwart des Beobachters, in der Küche eine solche Menge Eier verschlang, daß sie sodann ruhig neben dem Gefäße liegen blieb und keinerlei Anstalt machte, sich zu vertheidigen oder zu fliehen. »Ich schnitt dem Thiere«, sagt Matthes wörtlich, »mit einer Papierscheere den Kopf ab, öffnete den Leib und fand sämmtliche Eier zerbrochen vor: sie hatte dieselben ganz verschluckt und jedes, wenn es in die Mitte des Leibes gekommen war, dadurch zerquetscht, daß sie ihren Bauch gegen die Steinplatten drückte.« Führen die Hennen junge Hühner, so erscheint die Schlange zur Nachtzeit und frißt die Küchlein, ohne die Alte anzugreifen. Auch bei Tage versucht sie derartige Ueberfälle, wird dann aber manchmal durch einige kräftige Schnabelhiebe und Flügelschläge seitens der alten Glucke abgewiesen.

In kälteren Gegenden ziehen sich die Nattern im Spätherbste zu ihrer Winterherberge zurück, verfallen hier in einen Zustand der Erstarrung und erscheinen erst nach Eintritt des wirklichen Frühlings wieder, häuten sich und beginnen sodann ihr Fortpflanzungsgeschäft, welches einzelne Arten von ihnen in merkwürdiger Weise erregen und zu Angriffen auf größere Thiere geneigt machen soll. Mehrere Wochen später legt das Weibchen seine zehn bis dreißig Eier an feuchtwarmen Orten ab, deren Zeitigung der Sonnenwärme überlassend, oder trägt dieselben so weit aus, daß die Jungen unmittelbar vor oder nach dem Legen die Hülle sprengen, also lebendig geboren werden. Die Jungen ernähren sich anfänglich von kleinen, wirbellosen Thieren verschiedener Klassen, beginnen aber bald die Lebensweise ihrer Eltern.

Die Nattern bringen den Menschen keinen Nutzen, eher noch Schaden: diejenigen also, welche sie geschont wissen wollen, dürfen nicht vergessen, daß zu solcher Schonung eine genaue Kenntnis [339] der Schützlinge unbedingt erforderlich ist. In der Gefangenschaft halten die meisten Arten mehrere Jahre aus, da sie ohne Besinnen ans Futter gehen und sich nach und nach an ihren Pfleger gewöhnen, ja wirklich bis zu einem gewissen Grade zähmen lassen.

Behufs leichterer Uebersicht der sehr zahlreichen Familie, zerfällt man die Gesammtheit der Nattern in mehrere Unterfamilien, über deren Bedeutung und Umgrenzung die Meinungen der Schlangenkundigen übrigens noch sehr getheilt sind. Während nämlich einzelne Forscher alle natterähnlichen Schlangen, auch diejenigen, deren Gebiß von dem allgemeinen Gepräge nicht unerheblich abweicht, der Familie einreihen und sie höchstens in besonderen Unterfamilien vereinigt wissen wollen, erheben andere die betreffenden Gruppen zu Familien, und während diese auch solche Schlangen zu den Nattern zählen, welche ausschließlich beziehentlich ihres Gebisses letzteren ähneln, bringen jene die in Frage kommenden Arten in anderen Familien unter. Ich werde dieser verschiedenen Anschauungen im nachfolgenden gedenken, im übrigen aber die mir am angemessensten erscheinende Eintheilung befolgen.

In der ersten Unterfamilie, welche Jan zu einer Familie erhebt, vereinigen wir die Glattnattern (Coronellinae), verhältnismäßig kleine oder mittelgroße Nattern mit plattem Kopfe und Leibe, nicht abgesetzter Schnauze und glatter Beschuppung.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 338-340.
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