Aeskulapschlange (Coluber Aesculapii)

[347] Die Aeskulapschlange, gelbliche oder Schwalbacher Natter (Coluber Aesculapii, bicolor, fugax, sauromates und flavescens, Elaphis und Zamenis Aesculapii und flavescens), ist an dem kleinen, wenig vom Halse abgesetzten, an der Schnauze gerundeten Kopf, dem kräftigen Rumpfe und langen, schlanken Schwanze sowie an der Bekleidung, welche am Kopfe und den Seiten gekielte Schuppen zeigt, leicht kenntlich. Die Oberseite des Leibes und Kopfes ist gewöhnlich bräunlich graugelb, die Unterseite weißlich; am Hinterkopfe steht jederseits ein gelber Flecken, und auf dem Rücken und an den Seiten gewahrt man kleine, weißliche Tüpfel, welche bei einzelnen, unklaren Stücken sehr [347] rein und deutlich sind. Die Färbung ändert übrigens vielfach ab: es gibt sehr lichte und fast schwarze Aeskulapschlangen. Als eigenthümlich hebt Lenz noch hervor, daß die Bauchschilder auf beiden Seiten gleichsam umgeknickt sind, der flache Bauch also jederseits einen Rand hat, welcher durch Anstemmen der Rippen scharfeckig gemacht werden kann.


Aeskulapschlange (Coluber Aesculapii). 1/3 natürl. Größe.
Aeskulapschlange (Coluber Aesculapii). 1/3 natürl. Größe.

Die Länge beträgt 1,5 Meter; eine so bedeutende Größe erreichen jedoch nur die in Südeuropa lebenden Schlangen dieser Art.

Alle Beobachter, welche die Aeskulapschlange im Freien sahen oder in der Gefangenschaft hielten, vereinigen sich zu ihrem Lobe. »Ihre Leibesgestalt und ihre Bewegungen«, meint Linck, »haben etwas ungemein anmuthiges, gelecktes, hofmäßiges. Da ist nichts rauhes, ruppiges auf der ganzen Hautfläche, nichts eckiges, plötzliches in dem Wechsel der Form zu schauen: alles ist glatt, abgeschliffen, vermittelt.« Das Wesen der Schlange entspricht der äußeren Gestalt: sie ist anziehend in jeder Hinsicht.

In Südeuropa hält sich die Aeskulapschlange mit Vorliebe auf felsigen oder doch steinigen, dürftig mit Buschwerk bestandenen Geländen auf, fehlt daher auch hier anders gearteten Geländen oft gänzlich. Bei Schlangenbad lebt sie gern an altem Gemäuer, insbesondere an dem verfallener Burgen. In der erwähnten Ansiedelung des Grafen Görtz klettert sie ebenfalls viel in einer durchlöcherten [348] Mauer herum, besteigt ebenso den warmen Dachboden eines niedrigen, baufälligen, von Epheuwein bewachsenen Backhauses und kommt dann und wann auf einen absichtlich für sie aufgeworfenen Haufen der sich zersetzenden Pflanzentheile, in welchem auch ihre Brut aufwächst. In manchen Mauerlöchern, mehr noch aber in einer uralten, wahrscheinlich bis zum Boden herabhohlen Eiche haust sie friedlich mit Hornissen und schlüpft ungefähr drei Meter über der Bodenfläche durch ein Astloch in das Innere, welches regelmäßig auch von den Hornissen als Zugang zu ihrem in der Höhlung des Baumes befindlichen Neste benutzt wird. In das Wasser geht sie nicht freiwillig, schwimmt aber, wenn sie gewaltsam in dasselbe gebracht wurde, sehr rasch und geschickt dem Ufer zu. Ihre Bewegungen auf ebenem Boden sind nicht besonders rasch oder sonstwie ausgezeichnet: die Schnelligkeit ihres Laufes steht vielleicht hinter der anderer Nattern sogar zurück; um so vortrefflicher aber versteht sie zu klettern. In dieser Hinsicht übertrifft sie alle übrigen deutschen Schlangen und kommt hierin beinahe den eigentlichen Baumschlangen gleich, welche den größten Theil ihres Lebens im Gezweige verbringen. Wer sie beim Klettern beobachtet, kann deutlich sehen, wie sie ihre Rippen zu gebrauchen weiß. »Wenn ich eine meterlange Kletternatter«, sagt Lenz, »welche ich gezähmt hatte, stehend an meine Brust legte, nachdem ich den Rock zugeknöpft, wußte sie sich doch daran zu halten, indem sie sich da, wo ein Knopf war, so fest anstemmte, daß ihr Leib eine scharfe Kante bildete, welche sie so fest unter den Knopf schob, daß sie im Stande war, an einem einzelnen Knopfe oder an zweien sich festzuhängen, obgleich sie bedeutend schwer war. Wollte sie höher klettern, so stemmte sie ihren Leib dann unter die folgenden Knöpfe. Auf solche Weise können diese Thiere auch an dicken, senkrechten Kieferstämmen hinaufkommen; sie schieben hier immer die Kante, welche sie bilden, in die Spalten der Borke.« Gewöhnlich sucht sich die Aeskulapschlange übrigens an dünnen Baumstämmen, welche sie umschlingen kann, emporzuwinden, bis sie die Aeste erreicht hat und nun zwischen und auf ihnen weiter ziehen kann. In einem dichten Walde geht sie von Baum zu Baum über und setzt in dieser Weise ihren Weg auf große Strecken hin fort. An einer Wand klettert sie mit fast unbegreiflicher Fertigkeit empor, da ihr jeder, auch der geringste Vorsprung zu einer genügenden Stütze wird, und sie mit wirklicher Kunstfertigkeit jede Unebenheit des Gesteines zu benutzen weiß.

Die Nahrung scheint vorzugsweise in Mäusen zu bestehen; nebenbei stellt sie aber auch Eidechsen nach, und wenn es sich gerade trifft, verschmäht sie keineswegs, einen Vogel wegzunehmen oder ein Nest auszuplündern. Demungeachtet mögen ihre Freunde, welche sie wegen ihrer Mäusejagd zu den nützlichsten Arten der Ordnung rechnen, Recht behalten.

Das Treiben der vom Grafen Görtz ausgesetzten Ansiedler konnte gut beobachtet werden. Läßt man sich ruhig auf eine der bequemen Bänke nieder und enthält sich hier jeder Bewegung, jedes Sprechens und Rufens, so sehen einen die Schlingnattern für einen Klotz oder etwas derartiges an und kommen oft dicht herbei; sobald man sich aber im geringsten rührt, ergreifen sie eiligst die Flucht. Wenn sie sich unbeachtet wähnen, laufen sie hin und her, klettern auf und nieder, sonnen sich und betreiben ihre Jagd, wie sie zu thun gewöhnt sind. Zu dem erwähnten Astloche der Eiche gelangen sie mit Leichtigkeit, indem sie beim Klettern die Kanten ihres Leibes in die Ritzen der Rinde klemmen. Ebenso gehen sie an Bäumen abwärts, klammern sich auch, am Sonnenscheine sich erquickend, mit Vorliebe am senkrechten Stamme dieser Eiche ein. Bis in die Wipfel hinauf hat man sie noch nicht steigen sehen; dagegen sonnen sie sich auf der Höhe dichten Gebüsches oder der Mauern. Beim Schwimmen, Trinken, Fressen ist ebenfalls noch keine betroffen worden; wohl aber hat man öfters welche bemerkt, die sich zu zweien um einander gewunden hatten und so schnell auf dem Boden herumwälzten, daß das Auge des Zuschauers ihren Bewegungen nicht folgen konnte. Ohne Zweifel befand sich im Inneren einer solchen Walze jedesmal eine unglückliche Maus oder ein Vögelchen.

»Unter allen deutschen Schlangen«, sagt Linck, »erzielt die Schwalbacher Natter die spärlichste Nachkommenschaft. Ihre Begattung geht in der üblichen Weise, doch erst spät, vor sich, da sie [349] gegen Frost noch weit empfindlicher ist als irgend eine ihrer heimischen Sippen, und ihre Winterherberge selten vor Anfang Juni, also nach Umständen einen bis zwei Monate später als die anderen, verläßt. Sie ist neben ihrer Base, der Ringelnatter, die einzige deutsche Schlange, deren Eier erst eine Nachreife von mehreren Wochen zu überstehen haben, bevor das Junge zum Auskriechen fertig ist. Gewöhnlich legt sie nur etwa fünf Eier und zwar in Mulm, auch wohl in tiefes, trockenes Moos, und überläßt sie sodann ihrem Schicksale. Die Eier sind länglich, doch weniger stark gebaucht als Taubeneier und gleichen etwa vergrößerten Ameisenpuppen.«

Keine einzige deutsche Schlange wird so oft gefangen als die Aeskulapnatter. In Schlangenbad bildet ihre Jagd einen Erwerbszweig ärmerer Leute. Man sucht sie nach ihrem Erwachen aus dem Winterschlafe auf, zähmt sie und belustigt dann mit ihr die Badegäste, verkauft auch ein und das andere Stück an Liebhaber. Nach Beendigung der Badezeit läßt man die Gefangenen wieder frei, da sie im Käfige nur selten Futter zu sich nehmen, wie man in Schlangenbad wenigstens allgemein glaubt, daß dies niemals der Fall sei. Hiermit stimmen denn auch Lenz und Linck überein. »Ich habe«, sagt der erstere, »sie in der Gefangenschaft nie zum Fressen bringen können und dennoch gegen ein Jahr lebend erhalten. Einstmals entwischte mir eine meterlange am ersten August, nachdem sie seit dem vergangenen Herbste bei mir gewesen und unter Hunger und Kummer matt und mager geworden war. Als eben ein Monat vergangen, erschallte ein lauter Hülferuf des Tagelöhners im Garten; er hatte das Thier laufen sehen und schnell mit einer Gießkanne niedergedrückt. Als ich hineilte, sah ich zu meiner großen Freude meine entwischte Natter. Sie war sehr munter und wohlbeleibt, wurde ergriffen und wieder in die Gefangenschaft zurückgeführt.« Link versichert, daß die Gefangenen schlechterdings keine Speise zu sich nehmen und daher, obwohl sie einige Monate fastend aushalten, vor dem Frühjahre elendiglich zu Grunde gehen müssen. Daß beide Beobachter Unrecht haben, obgleich sie nur das Ergebnis ihrer eigenen Erfahrungen mittheilen, geht aus einem Berichte von Erber hervor, welcher das freiwillige Hungernder Gefangenen als bemerkenswerth bezeichnet, da er an zwei Aeskulapschlangen, welche er längere Zeit im Käfige hielt, beobachtete, daß sie zusammen im Laufe eines Sommers hundertundacht Mäuse und zwei Eidechsen verzehrten. Auch eine, welche vierzehn Monate lang keine Nahrung zu sich nahm, sich während dieser Zeit aber regelmäßig häutete und trotz dieser Hungerkur nicht sichtlich abmagerte, hatte sich schließlich noch zum Fressen bequemt, lag aber bald darauf todt im Zwinger: »das erste Thier dieser Art, welches mir zu Grunde ging.« Effeldt ließ die von ihm gefangen gehaltenen Aes kulapschlangen, von denen er bisweilen gleichzeitig Dutzende pflegte, versuchsweise monatelang hungern und bot ihnen dann Vogeleier, Eidechsen, Blindschleichen, Kröten, Frösche und andere Lurche, auch Kerbthiere und Würmer verschiedener Art an. Allein keine einzige von ihnen vergriff sich an solchen Thieren. Dagegen gewöhnte der genannte, welcher eine außerordentliche Erfahrung und ein bewunderungswürdiges Geschick in der Pflege von Schlangen besaß, sie bald dahin, Mäuse und Vögel zu fressen, und fand, daß sie auffallend viele Nahrung bedürfen. »Wird«, so schreibt er Lenz, »eine lebende Maus oder ein Vogel in den Käfig gesetzt, so gucken alsbald, es mag Tag oder Nacht sein, die Schlangenköpfchen aus den Höhlen hervor; es beginnt eine heftige Jagd, und die glücklichste Jägerin greift die Beute mit den Zähnen, gleichviel an welchem Körpertheile, und wickelt sie blitzschnell ein, indem sie ihren Leib in sechs dicht aneinanderschließenden Ringen um sie schlingt, so daß sie dem Auge des Zuschauers entschwindet. Ist das umschlungene Thier besonders lebenskräftig und sträubt es sich in ihren Umschlingungen, so kommt es häufig vor, daß die Schlange mit rasender Schnelligkeit im Käfige sich hin- und herrollt, bis die Beute durch Ersticken sicher getödtet scheint. Auch nunmehr wird sie von der freßgierigen Natter nicht losgelassen. Diese lüftet nur die Ringe, sucht den Kopf, packt ihn mit den Zähnen und beginnt hierauf das Verschlingen in gewöhnlicher Weise. Es ereignet sich auch nicht gerade selten, daß zwei Aeskulapschlangen gleichzeitig dasselbe Jagdwild umfassen, umwickeln und sich im Kampfe um den zu hoffenden Fraß mit solcher Schnelligkeit herumwälzen, daß der Zuschauer gar nicht deutlich sieht, aus was für Theilen [350] das Walzwerk besteht.« Effeldt brachte die von ihm gepflegten Aeskulapschlangen dahin, auch todte Säugethiere und Vögelchen, ja zuletzt sogar geschnittenes rohes Pferdefleisch zu fressen.

Im Anfange der Gefangenschaft ist die Aeskulapschlange sehr boshaft und beißt mit Wuth nach der Hand des Fängers oder nach Mäusen, welche in ihren Käfig gebracht werden. »Sie macht dann«, sagt Lenz, »den Kopf äußerst breit, so daß sie ein ganz anderes Aussehen bekommt und der Kopf einem Dreiecke gleicht, zieht den Hals ein und schnellt ihn hierauf äußerst rasch zum Bisse los. Selbst wenn ihre Augen bei bevorstehender Häutung verdüstert sind, zielt sie gut, weit besser als die Kreuzotter. Ehe sie beißt, züngelt sie wie jene schnell; beim Bisse selbst aber ist die Zunge eingezogen. Zuweilen beißt sie, ohne vorher den Rachen zu öffnen, rasch zu; zuweilen öffnet sie vorher den Rachen weit. Wenn zwei gerade recht böse sind, beißen sie auch mitunter eine die andere; übrigens vertragen sie sich gegenseitig und mit anderen Kriechthieren in der Gefangenschaft sehr gut.« Die Bosheit hält manchmal lang an, bricht auch wieder vor, wenn die scheinbar gezähmte Natter in ihrer Behaglichkeit gestört oder nach einem längeren Ausfluge wieder in den Käfig zurückgebracht wird; nach einigen Wochen aber wird die Gefangene, wenn man sich viel mit ihr abgibt, so zahm und gutmüthig, daß sie sich mit ihrem Pfleger wirklich befreundet, ihn aus freien Stücken und, selbst geneckt, nie mehr zu beißen sucht; ja, sie soll, wie Erber behauptet, freigekommen, sogar ihr Gefängnis wieder aufsuchen. Wie rasch gerade diese Schlange sich an den Menschen gewöhnt, geht aus einer Beobachtung des letztgenannten hervor, welche er anstellte, als er eine Aeskulapschlange in der Nähe eines Steinbruches fing. »Dieses Thier«, erzählt er, »war so zahm, daß ich vermuthete, es müsse schon früher in Gefangenschaft gewesen sein; von den in der Nähe beschäftigten Arbeitern erfuhr ich jedoch, daß sie die Natter schon längere Zeit bemerkt hatten und sie deshalb nicht tödteten, weil sie gesehen, wie sie Mäuse fresse und vertilge. Aus dieser Schonung mußte ich mir ihre geringe Scheu bei Annäherung des Menschen erklären.« Dieselbe Natter wurde später von Erber, da alle Versuche, sie zum Fressen zu bewegen, fruchtlos blieben, wieder ausgesetzt, ohne indessen die gehegten Erwartungen ihres bisherigen Pflegers zu rechtfertigen. »Sie schien sich der erlangten Freiheit wenig zu freuen, rollte sich zusammen und blieb in meiner Nähe an einer sonnigen Stelle ruhig liegen; meine Entfernung beunruhigte sie wenig. Als ich nach geraumer Zeit an die Stelle zurückkam, lag sie noch unverändert da und rührte sich nicht; nur als ich sie streichelte, that sie wie gewöhnlich im Käfige, kroch langsam an meinem Arme empor und blieb auf meiner Achsel liegen. Ich beunruhigte sie auf alle Weise, sie floh aber nicht, sondern kroch ganz langsam an meinem Fuße empor und suchte sich unter meiner Weste zu verbergen; ich gab daher meinen Vorsatz auf und nahm sie wieder mit nach Hause.« Die eine, welche Lenz pflegte, hatte sich so an ihn gewöhnt, daß es ihr gar nicht mehr einfiel, nach ihm zu beißen. »Nur wenn ich sie«, erzählt er, »wie dies öfters geschah, mit in ein Wäldchen von Kirschbäumen nahm, wo sie bald an einem Stamme hinauf, dann von Ast zu Ast und dann auch von Baum zu Baum ging, biß sie, wenn ich ihr nachgeklettert war und sie losmachen wollte. Sie fühlte sich dort oben einmal wieder frei, wollte ihre Freiheit behaupten und schlang sich immer wieder fest, wenn ich den Versuch machte, sie loszuwinden. Es blieb mir also nichts übrig, als daß ich jedesmal eine Säge mit hinaufnahm und den ganzen Ast absägte, an welchem sie hing; auch ließ sie, wenn ich herunter war, nicht los, und so mußte ich ihn denn jedesmal unter Wasser stecken, worauf sie ablassen mußte, eiligst auf das trockene Ufer schwamm und dort von mir mit Leichtigkeit wieder eingefangen wurde.«

Von der Kletterfertigkeit, Schmiegsamkeit und dem Hange, sich der Bevormundung des Pflegers zu entziehen, erzählen Lenz und Linck anmuthende Geschichtchen. Linck erhielt anfangs Juni ein hübsches Paar aus Schlangenbad zugesandt, nahm beide aus der mit Moos und Krautwerk wohl ausgefütterten Kiste heraus und überließ, von Geschäften in Anspruch genommen, sie in einem großen, wohlverschlossenen Zimmer sich selbst. Nach Verlauf einer Stunde kehrte er zurück, um die Gäste zu begrüßen; diese aber waren verschwunden. In allen Ecken wurde nachgesucht, alle [351] denkbaren Schlupfwinkel aufgedeckt: vergebens! Endlich entdeckte er das Männchen in einer Höhe von drei Meter auf der Stange eines Vorhanges, in dessen Falten es sich vom Boden aus emporgearbeitet haben mußte, der Länge nach hingestreckt, ruhig auf das Treiben unter ihm herabschauend. Des noch fehlenden Weibchens halber wurde weiter gesucht, wiederum lange ohne Erfolg, bis unser Beobachter endlich aus dem Kissen eines gepolsterten Sessels ein leises Regen vernahm. Beim Umwenden des Stuhles sah er zu seiner Freude den Flüchtling, mit den Sprungfedern des Sitzkissens auf das innigste verschlungen, und, wie verschiedene Beißversuche zeigten, entschlossen, seinen errungenen Schlupfwinkel gegen jedermann zu behaupten. Nur mit größter Mühe konnte das Thier losgelöst werden.

Das landstreicherische Paar erhielt jetzt einen verläßlicheren Aufenthalt angewiesen: eine mit engem Drahtgeflechte überwobene Kiste. Eines Tages war der Deckel nicht sorgfältig genug geschlossen worden, den Schlangen es gelungen, ihn etwas zur Seite zu drücken, und das Gefängnis wiederum leer. Die Oeffnung, durch welche beide entschlüpft waren, erregte wegen ihrer Kleinheit gerechtes Erstaunen; es schien unbegreiflich, daß ein so großes Thier im Stande sei, durch einen solchen Ritz sich zu drängen. Diesmal wurde sehr lange vergeblich gesucht, alle Schiebladen ausgezogen, jedes Polster auf das genaueste eingesehen, selbst der Fußboden aufgebrochen, kein Zimmer, kein Winkel unbesichtigt gelassen: aber Schlangen und Mühe schienen verloren zu sein. »Nach drei Wochen etwa«, erzählt unser Berichterstatter wörtlich, »war ich eben im Begriff, durch das Schlafgemach mich in ein inneres Zimmer zu begeben, als ich das Weibchen emsig bemüht fand, unter der Thür hinweg sich ins Nachbarzimmer zu zwängen. Es hielt, durch die nahenden Schritte gestört, einen Augenblick inne und lag nun, den Vorderleib auf der Schwelle, den übrigen Körper im Schlafzimmer, unter der Thür platt gedrückt, wie todt da. Ich versuchte, da die Thür, ohne es zu gefährden, nicht aufgethan werden konnte, es hervorzuziehen, hätte es aber in Stücke reißen müssen, um es loszubringen; daher überließ ich es ganz sich selbst, und es nahm denn auch die Gelegenheit wahr, sich so eilfertig als möglich aus dem Staube zu machen. Hierbei konnte ich den Formenwechsel des Körpers, welcher sich bald senkrecht, bald in die Quere platt drückte, nicht genug bewundern. Wo aber in aller Welt hat das Thier inzwischen Wohnung genommen? Alle Umstände vereinigen sich, mir selbst und allen, welche die Oertlichkeit sowie die Genauigkeit und den Umfang der angestellten Fahndungen näher kennen, die Sache zum unauflöslichen Räthsel zu machen.« Acht Tage später etwa wurde auch das Männchen wieder entdeckt und zwar auf einem Reisighaufen in der Nähe der Holzkammer, wo es sich vergnüglich im warmen Sonnenscheine reckte. Dem Umfange des Leibes nach zu schließen, hatte es während der Tage der Abwesenheit seinen sterblichen Leib nicht kasteiet.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 347-352.
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