Streifennatter (Elaphis quadriradiatus)

[354] Die Streifennatter (Elaphis quadriradiatus, Coluber elaphis und quaterradiatus, Natrix elaphis), eine der größten europäischen Schlangen, erreicht eine Länge von zwei Meter und ist oben auf olivenbräunlichem, ins Fleischfarbige ziehendem Grunde jederseits mit zwei braunen Längslinien gezeichnet, unten dagegen einfach strohgelb. Auch diese Färbung unterliegt vielfachem Wechsel. Erber fing einzelne, welche ganz schwarz gefärbt waren, und andere Forscher beobachteten, daß die Jungen auf der Oberseite gewöhnlich drei Reihen brauner Flecke zeigen, an den Seiten ebenfalls gefleckt sind und auf der Unterseite schwärzlich stahlgrau aussehen.

Der Verbreitungskreis der Streifennatter erstreckt sich über das ganze südliche Europa, von Südungarn an bis nach Spanien hin; sie soll aber nirgends häufig sein, unzweifelhaft nur der unausgesetzten Verfolgung halber, welche sie in den meisten Ländern zu erleiden hat. Alle Beobachter nennen sie ein äußerst harmloses und nützliches Thier, welches selbst dann nicht beißt, wenn man es im Freien einfängt, und in kürzester Zeit sich an den Pfleger gewöhnt, durch Aufzehrung von Ratten und Mäusen auch verdient macht, nebenbei aber den nützlichen Maulwürfen, kleinen Vögeln und Eidechsen nachstellt.

»Vor zwei Jahren«, so schreibt mir Erber, »fing ich in Albanien eine Streifennatter unter sonderbaren Umständen. Während ich in der Umgebung eines Klosters Kerbthiere sammelte, vernahm ich in einer bis zur Erde herabreichenden, geschlossenen Dachrinne des Gebäudes ein mir unerklärliches Geräusch. Ich verhielt mich ruhig, in der Meinung, es dürfe einer von den kleinen Vierfüßlern des Landes zum Vorscheine kommen; nicht wenig aber staunte ich, als anstatt dessen zuerst ein Hühnerei und nach diesem eine mehr als fünf Fuß lange Streifennatter erschien. Das Thier kroch ins Gebüsch, verschlang dort mit unendlicher Mühe das Ei, ohne es zu zerbrechen, zerdrückte es aber bald darauf dadurch, daß es sich an ein kleines Bäumchen anstemmte. Ich gestehe, es kostete mir Ueberwindung, die schöne Schlange jetzt nicht sogleich einzufangen; aber ich wollte ihr ferneres Treiben beobachten. Richtig, nach wenigen Minuten nahm sie ihren Weg wieder durch die Dachrinne auf das Dach und von da durch ein Bodenfenster in das Innere des Klosters. Wahrscheinlich befanden sich hier die Niststätten für die Hühner oder die Lagerstätten für die Eier; denn nach kurzer Zeit erschien unsere Schlange wieder auf demselben Wege, zum zweitenmal mit einem Ei im Maule, kletterte ebenso wie früher durch die Dachrinne herab, schlängelte sich in das Gebüsch und verzehrte hier in angegebener Weise auch die neu erworbene Beute. Damit noch nicht genug: siebenmal wiederholte die Streifennatter ihren Raubzug, und möglicherweise wäre sie noch [354] nicht zufriedengestellt gewesen; mir aber wurde die Zeit zu lang, und ich fing sie, Dank der eingenommenen Mahlzeit, ohne sonderliche Mühe.


Streifennatter (Elaphis quadriradiatus). 1/4 natürl. Größe.
Streifennatter (Elaphis quadriradiatus). 1/4 natürl. Größe.

Da ich kein entsprechend großes Säckchen bei mir hatte, versorgte ich die Gefangene in einer meiner Rocktaschen, welche alle entsprechend groß und mit verschiedenen Knöpfen zum Schließen versehen sind, und sammelte nun ruhig weiter. Aber bald verspürte ich eine sonderbare Feuchtigkeit an meiner Seite: die Schlange hatte mir ihren ganzen zerquetschten Eierraub in meine Rocktasche gespieen, und es kostete mir wahrlich keine geringe Anstrengung, diese Tasche von der lauteren und unlauteren Bescherung durch Waschen zu säubern, zumal ich die nunmehr sehr lebhafte Natter beständig unter dem Fuße halten mußte.

Jedenfalls bekundete das gedachte Thier eine List und Raubfertigkeit, welche vollste Beachtung verdient, um so mehr, als sie gleichzeitig die oft angezweifelte Behauptung, daß Schlangen auch Eier plündern, in der unwiderleglichsten Weise bestätigte.«


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 354-355.
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