Sechzehnte Familie: Grubenottern (Crotalidae)

[489] Eine tiefe Grube jederseits der Schnauze zwischen den Nasenlöchern und den Augen, welche einen Blindsack bildet, und weder mit der Nase noch mit den Augen in Verbindung steht, ist das bezeichnende Merkmal der Gruben- oder Lochottern (Crotalidae). Außerdem unterscheiden [489] sich die betreffenden Schlangen von den Vipern durch größere Schlankheit des Leibes und meist auch durch etwas längeren, zuweilen greiffähigen Schwanz. Der Kopf ist eiförmig oder stumpf dreieckig, hinten verbreitert, deutlich vom Halse abgesetzt; die Nasenlöcher liegen seitlich der Schnauze; die mäßig großen Augen haben senkrecht geschlitzten Stern. Die Beschilderung des Kopfes ist unvollständig; die übrige Beschuppung stimmt im wesentlichen mit der Bekleidung der Vipern überein.

Die Grubenottern, von denen man ungefähr vierzig Arten kennt, treten am zahlreichsten im indischen Gebiete auf, fehlen in dem benachbarten äthiopischen wie in dem australischen gänzlich, werden im nördlich altweltlichen nur durch wenige Arten vertreten, finden sich aber wiederum in den beiden neuweltlichen Gebieten und zwar in überwiegender Anzahl im Norden Amerikas. Wallace meint, hieraus den Schluß ziehen zu dürfen, daß die Familie in den indisch-chinesischen Ländern ihren Ursprung fand und sich von hier aus nordöstlich bis Nordamerika und so weiter nach Südamerika verbreitete, welches, da es die Lochottern am spätesten erhielt, noch nicht Zeit gehabt hat, sie, so günstig seine Verhältnisse für das Leben der Kriechthiere auch sind, in großartigem Maßstabe zu entwickeln: wir unsererseits dürfen derartige Folgerungen wohl auf sich beruhen lassen und uns mit Hervorhebung des thatsächlichen der allerdings auffallenden Verbreitung dieser Familie begnügen.

Die Lebensweise der Lochottern weicht wenig von dem Treiben der Vipern ab. Auch sie sind vollendete Nachtthiere und verbringen den Tag schlafend oder schlummernd, entweder in ihrem Schlupfwinkel verborgen oder vor demselben liegend, um sich den Genuß der Besonnung zu verschaffen; doch scheint es, als ob sie, wenigstens einzelne unter ihnen, minder träge wären als jene. Mehrere Arten unter ihnen klettern, einzelne, deren grüne Färbung sie als Baumthiere bezeichnet, verbringen im Gezweige höherer oder niederer Pflanzen ihr Leben; andere schwimmen fast mit der Fertigkeit der Wassernattern und stellen hauptsächlich Fischen nach, die Mehrzahl aber verläßt den Boden nicht und jagt hier auf allerlei kleine Säugethiere und Vögel. Hinsichtlich der Fortpflanzung stimmen sie mit den Vipern vollständig überein, da auch sie ihre Eier soweit austragen, daß die Jungen unmittelbar nach dem Legen die Eischale sprengen.

Obwohl die Vipern an Gefährlichkeit und Böswilligkeit schwerlich hinter den Grubenottern zurückstehen, gelten diese doch als die am meisten zu fürchtenden Schlangen der Erde, und in der That darf man behaupten, daß ihre Giftwerkzeuge am höchsten entwickelt sind. Von der Gefahr, mit welcher einzelne den Menschen bedrohen, hat man allerdings mehr Aufhebens gemacht, als die Sache verdient; andere hingegen, vor allen die furchtbare Lanzenschlange und der Buschmeister, scheinen wirklich das Entsetzen zu rechtfertigen, welches an ihren Namen sich heftet. Sie gelten als der Fluch der Länder, welche sie bewohnen, hemmen und hindern den Anbau weiter Strecken und fordern alljährlich viele Opfer. Ihnen steht der Mensch noch bis zum heutigen Tage ohnmächtig gegenüber; die entsetzliche Wirkung ihres Giftes beschränkt die Anzahl ihrer Feinde und beeinträchtigt bis jetzt noch den gegen sie begonnenen Vernichtungskampf.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 489-490.
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