Zehnte Familie: Nachtbaumschlangen (Dipsadidae)

[388] Obwohl es auch unter den bisher erwähnten Baumschlangen viele Nachtthiere gibt, bezeichnen wir mit dem Namen Nachtbaumschlangen (Dipsadidae) doch eine besondere Familie der Ordnung, Schlangen von mittlerer Größe, d.h. bis etwa zwei Meter Länge, mit mäßig langem, seitlich sehr zusammengedrücktem Leibe, kurzem, hinten meist stark verbreitertem, also fast [388] dreieckigem, kurz- und rundschnauzigem, deutlich vom Halse abgesetztem Kopfe, weit vorstehenden, großen, glotzenden Augen, deren Stern senkrecht geschlitzt ist, seitlich gelegenen Nasenlöchern, weit gespaltenem Maule und im hohen Grade ausdehnbarem Unterkiefer, sehr dünnem Halse und bis auf Fadenstärke sich verdünnendem, hartspitzigem Schwanze, regelmäßigen Kopfschildern und durchschnittlich kleinen, längs des Rückgrates jedoch zuweilen merklich vergrößerten Schuppen sowie endlich kräftig entwickelten Zähnen, unter denen die hintersten gefurcht, die vorderen aber zu Fangzähnen entwickelt zu sein pflegen.

Warum Boje den zierlichen, zwar bissigen, aber doch unschädlichen Thieren einen im Alterthume verrufenen Namen ertheilt hat, wissen wir nicht; soviel aber steht fest, daß sie mit der Dipsas der Alten nichts gemein haben: denn es unterliegt keinem Zweifel, daß diese unter letzterwähnter Bezeichnung irgend eine Viper verstanden, keineswegs aber an unsere anmuthigen Baumschlangen gedacht haben. »Etlich der alten scribenten«, bemerkt Geßner, »zelen sie den hecknateren zu, andere den aspiden. Es ist aber doch nit vil hieran gelegen.«

Der Verbreitungskreis der Nachtbaumschlangen, von denen man ungefähr vierzig Arten kennt, erstreckt sich über beide Erdhälften. Sie treten fast ebenso zahlreich im indischen wie im südamerikanischen, spärlicher im äthiopischen und nur vereinzelt im australischen und nördlich altweltlichen Gebiete auf, gehören also ebenfalls größtentheils den Gleicherländern an. Alle bekannten Arten leben auf Bäumen und kommen nur ausnahmsweise zum Boden herab. Kriechthiere, namentlich Eidechsen und Baumfrösche, scheinen ihre bevorzugte Nahrung zu bilden; einige jagen ausschließlich auf Vögel, andere ebenso auf Säugethiere; einzelne mögen auch Kerbthieren nachstellen. Daß sie Nester plündern, konnte durch Günther, welcher das wohlerhaltene Ei eines Papageies aus dem Magen einer Nachtbaumschlange nahm, unwiderleglich bewiesen werden. Ihre Lebensweise ist noch wenig bekannt und dies um so auffallender, als sie da, wo sie leben, keineswegs selten auftreten und auch unserem heimatlichen Erdtheile nicht fehlen. Nach Wucherers Erfahrungen verdienen alle brasilianischen Nachtbaumschlangen ihren Namen. Während des Tages ziehen sie sich in dunkle, sie verbergende Stellen zurück; des Nachts sieht man sie im Freien, nicht selten auch in unmittelbarer Nähe oder selbst auf den Strohdächern der Häuser. Eine von dem genannten Beobachter in Gefangenschaft gehaltene Nachtbaumschlange war während des ganzen Tages unsichtbar und in einer Lücke des Käfigs versteckt, nach Sonnenuntergang jedoch äußerst munter und lebhaft. Futter aber nahm sie nicht an, und nach einigen Monaten lag sie eines Tages todt im Käfige.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 388-389.
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