Gangesgavial (Gavialis gangeticus)

[97] Die bekannteste Art der Sippe ist der Gangesgavial, »Mudela« der Hindus (Gavialis gangeticus, Lacerta gangetica, Crocodilus gangeticus, longirostris, arctirostris, tenuirostris und Gavial, Gavialis gangeticus, longirostris und tenuirostris, Rhamphostoma gangeticum und tenuirostre), in den Augen der Bewohner Malabars ein heiliges, Wischnu, dem Schöpfer und Beherrscher des Wassers, geweihtes Thier, welches im Ganges, Brahmaputra und anderen Zu- oder Nebenflüssen des heiligen Stromes gefunden wird, nach Day aber auch im Indus und Tschumma vorkommt. Der vor den Augen eingeschnürte Kopf, die lange, schmale, flachgedrückte, an der Spitze stark erweiterte Schnauze, die verhältnismäßig kurzen, den Zwischenkiefer bei weitem nicht erreichenden Nasenbeine, die große Anzahl von Zähnen in jedem der beiden Kiefer, die Nackenbeschilderung, die im Verhältnisse kleinen Augenhöhlen sowie endlich die schwach entwickelten Beine unterscheiden, laut Strauch, den Gangesgavial in jeder Altersstufe von seinem nächsten Verwandten. Im Oberkiefer der über alles gewohnte Maß verlängerten Schnauze, welche Edwards, der erste Beschreiber des Thieres, treffend mit dem Schnabel eines Sägers vergleicht, stehen jederseits sieben- bis neunundzwanzig, im Unterkiefer fünf- oder sechsundzwanzig schlanke, leicht gebogene Zähne, so daß das Gebiß aus der außerordentlichen Anzahl von hundertundvier bis hundertundzehn ziemlich gleichmäßig und wohlentwickelten Zähnen besteht; die stärksten unter ihnen sind die beiden vorderen Seitenzähne des Oberkiefers und das erste, zweite und vierte Paar des Unterkiefers. Unmittelbar hinter dem Kopfe, beziehentlich dem Hinterhauptbeine liegen vier, höchstens sechs kleine Schilder in einer Querreihe; ein anderes Paar solcher Schilder nimmt den Raum zwischen ihnen und den vorderen Rückenschildern ein. Diese beginnen in der Mitte der Halslänge und bilden bis zur Schwanzwurzel zweiundzwanzig Querreihen, von denen die erste aus zwei, die beiden folgenden aus noch zwei kleinen seitlichen mehr, die übrigen aus vier [97] mittleren und zwei kleinen seitlichen Schildern bestehen. Auf dem Schwanze stehen neunzehn Paare gekielte und neunzehn einfache kammartig erhobene Schuppen. Bei alten Männchen ist die vordere Auftreibung der Schnauze höher als bei den Weibchen und enthält einen Hohlraum zur Aufnahme von Luft, so daß erstere länger unter Wasser verbleiben können als letztere. Die Färbung der Oberseite ist ein schmutziges Bräunlichgrün, welches mit zahlreichen kleinen dunklen Flecken übersäet erscheint, die der Unterseite geht durch Grüngelb in Weiß über. Die Länge der erwachsenen Stücke soll sechs Meter und darüber betragen.


Gangesgavial (Gavialis gangeticus). 1/25 natürl. Größe.
Gangesgavial (Gavialis gangeticus). 1/25 natürl. Größe.

Schon Aelian weiß, daß im Ganges zwei Arten von Krokodilen leben: solche, welche wenig schaden und andere, welche gierig und schonungslos Menschen und Thiere verfolgen. »Diese«, sagt der griechische Forscher, »haben oben auf der Schnauze eine Erhöhung wie ein Horn. Man gebraucht sie zur Hinrichtung der Missethäter, welche man ihnen vorwirft.« Ob der hervorgehobene Unterschied in der Lebensweise wirklich begründet ist oder nicht, wage ich nicht zu entscheiden; denn die neueren Nachrichten über den Gangesgavial sind auffallenderweise außerordentlich dürftig. Wahrscheinlich verwechseln die Reisenden Gavial und Krokodil sehr häufig und [98] erzählen von dem einen manches, was möglicherweise von dem anderen gilt. Aelians Angabe wird übrigens auch durch Paolino bestätigt, welcher ausdrücklich mittheilt, man habe die eines Verbrechens angeklagten Menschen in Gegenwart der Brahmanen durch einen Fluß waten lassen und freigesprochen, wenn sie von den Mudelen verschont blieben. Daß man die Thiere noch heutigentages für heilig hält, unterliegt keinem Zweifel, weil fast alle Reisenden, welche ihrer Erwähnung thun, von solcher Anschauung der Eingeborenen zu berichten wissen. Orlich besuchte im Jahre 1842 den heiligen Krokodilteich in der Nähe der Stadt Kuraschi, einen berühmten Wallfahrtsort für die Eingeborenen. In ihm lebten etwa funfzig Krokodile, welcher Art, läßt sich freilich nicht bestimmen, darunter einige von fast fünf Meter Länge. Der Bramane, welchem die Pflege der Vertreter Wischnus anvertraut war, rief sie in Gegenwart des Reisenden herbei, um sie zu füttern. Zu nicht geringem Erstaunen Olrichs gehorchten die Krokodile ihrem Anbeter, kamen auf den Ruf aus dem Wasser heraus, legten sich mit weit aufgesperrtem Rachen im Halbkreise vor ihm hin und ließen sich durch Berührung mit einem Rohrstabe willig leiten. Zu ihrer Mahlzeit wurde ein Ziegenbock geschlachtet, in Stücke zerhauen und jedem Krokodile eins vorgeworfen. Nach beendigter Mahlzeit trieb sie der Wärter mit seinem Rohrstocke wieder ins Wasser. Trumpp sagt, daß sich wenigstens zwölf Fakirs der Pflege und Anbetung der Krokodile dieses Teiches widmen, deren Ernährung aber, wie billig, dem ringsum wohnenden gläubigen Volke aufbürden. Schlagintweit spricht ebenfalls von gezähmten und wohlgepflegten Krokodilen, nennt dieselben aber Alligatoren, beschreibt sie nicht näher und macht es daher ebenfalls unmöglich, über die Art ins klare zu kommen. »Wie zahm die Alligatoren im Magar-Teiche sind«, sagt er, »läßt sich daraus schließen, daß die Muselmanen auf die Köpfe von einigen großen Zeichnungen sowie religiöse Sprüche in Oelfarben aufgetragen haben. Es ist ein wunderbares Schauspiel, von allen Seiten sich von herbeigerufenen Alligatoren umringt zu sehen, aber ein Schauspiel, welches, vielleicht gerade seiner Neuheit und Seltenheit wegen wohl bei niemandem das sonst so sehr natürliche Gefühl der Furcht erweckt.«

Unter den Fischen soll der zahnreiche Krokodilgott arge Verwüstungen anrichten, ebenso, gleich anderen Krokodilen, den zum Trinken an den Fluß kommen den größeren Säugethieren auflauern. Aus den mir bekannten Quellen läßt sich auch hierüber kein Urtheil gewinnen. Die Bildung der Schnauze des Gavials spricht allerdings dafür, daß er sich, wenn nicht ausschließlich, so doch vorzugsweise von Fischen ernährt; Day bezeichnet ihn auch ausdrücklich als »ein wahres fischfressendes Krokodil, welches schwimmend Beute gewinnt«: er müßte jedoch eben kein Krokodil sein, wollte er einen anderen, nicht der Klasse der Fische angehörigen fetten Bissen verschmähen. Einen nicht unerheblichen Theil seiner Nahrung bilden vielleicht die Leichname, welche in seinen bevorzugten Wohnfluß geworfen werden; möglicherweise ergreift er auch dann und wann einen der frommen Hindus, welche, wenn sie ihr Ende nahe fühlen, sich noch an das Ufer des Ganges tragen lassen und angesichts des heiligen Stromes den Tod erwarten.

Ueber die Fortpflanzungsgeschichte des Gavials berichtet neuerdings Anderson, welcher, wo ist nicht gesagt, Eier dieses Krokodils aus dem Sande grub und mehrere, soeben und zum Theil mit seiner Hülfe ausgeschlüpfte Junge einige Zeit in Gefangenschaft hielt. Die Eier, vierzig an der Zahl, lagen in zwei, gleich zahlreichen Schichten übereinander und waren durch Sand um sechzig Centimeter von einander getrennt, vielleicht also an verschiedenen Tagen gelegt worden. Die Jungen, allerliebste Geschöpfe, hatten beim Auskriechen eine Länge von vierzig Centimeter, wovon vier Centimeter auf die Schnauze und zweiundzwanzig Centimeter auf den Schwanz kamen, und waren auf graubräunlichem Grunde mit fünf unregelmäßigen Querbinden zwischen Vorder- und Hinterfüßen und deren neun auf dem Schwanze gezeichnet. Unmittelbar nach dem Auskriechen rannten sie mit überraschender Schnelligkeit davon; eines von ihnen, welchem Anderson Geburtshülfe leistete, biß bereits lebhaft um sich und unseren Gewährsmann in den Finger, noch ehe er es gänzlich aus seiner Schale befreit hatte.

[99] In den europäischen Sammlungen findet man den Gavial seltener als andere Krokodile; lebend habe ich ihn bei uns zu Lande noch niemals gesehen.


*


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 97-100.
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