Pferdeactinie (Actinia equina)

[479] Daß hierbei an eine Erschöpfung der vorräthigen Nesselkapseln nicht im mindesten zu denken ist, mögen einige Zahlen beweisen. Die in der Nordsee gemeine rothe Seerose (Actinia mesembryanthemum, eine Abart der Actinia equina) hat in einem Fangarme von mittlerer Größe mehr als vier Millionen reifer Nesselkapseln und in allen ihren Fangarmen zusammen wenigstens fünfhundert Millionen. Ein Fangarm der prachtvollen sammetgrünen Seerose (Anthea cereus) enthält über dreiundvierzig Millionen Nesselkapseln: also besitzt ein Thier mit hundertundfunfzig Fangarmen den ungeheueren Vorrath von sechstausendvierhundertundfunfzig Millionen. Und unter den reifen, zum Fange bereit liegenden, ist überall ein junger Nachwuchs vorhanden, der die verbrauchten Kapseln schnell wieder ersetzen kann.« Bei der Entladung tritt aus der Nesselkapsel der bisher darin enthaltene hohle und sich aus- und umstülpende Faden hervor, bei manchen Sorten auch, wie bei der Hydra, Haken. Nie dienen jedoch, wie man wohl fälschlich annahm, dieselben zum Verwunden und Anbohren der Beute, welche lediglich durch die auf der äußeren Seite des ausgestülpten Schlauches befindliche Flüssigkeit gefährdet wird. Möbius berührte eine große Anthea cereus mit der Zunge und empfand augenblicklich das heftigste Brennen, das erst nach vierundzwanzig Stunden ganz nachgelassen hatte. Eine andere hübsche Beobachtung zeigt, daß eine Actinie im Stande ist, eine Schnecke durch leise Berührungen zurückzuschrecken. Er sagt: »Einer Actinia mesembryanthe mum hatte ich Fleisch gegeben. Während sie es mit den Tentakeln langsam in den Mund hineindrückte, kroch eine Nassa reticulata (aus der Familie der Bucciniden, S. 275) heran, die es gewittert hatte, und tastete danach. Aber in dem Augenblicke, wo ihre Athemröhre mit den Tentakeln der Actinie zusammenstieß, schrak sie heftig zusammen, zog die Röhre ein und wandte sich ab. Allein das Fleisch lockte sie wiederum an; sie kehrte um, ließ sich aber auf dieselbe Weise [479] zurückjagen. Als dieses Angreifen und Abwehren noch einigemal wiederholt worden war, legte ich der Schnecke ein anderes Stückchen Fleisch hin, um sie zu beruhigen. Ich kenne keine anderen Dinge in der Actinie, als die plötzlich ausgestülpten Nesselschläuche, durch welche das Benehmen der Schnecke erklärt werden könnte«.

Um nicht unten, bei der Schilderung der Schwämme, nochmals auf die Nesselorgane zurückkommen zu müssen, wollen wir gleich hier bemerken, daß jene, in mancher Beziehung den Polypen sich nähernde Klasse Nesselzellen nicht besitzt. Was zu der Annahme, auch manche Schwämme nesselten, Veranlassung gab, ist der Umstand, daß dieselben oft von der Spongicola fistularis, einem mikroskopischen, actinienartigen Polypen, bewohnt werden, der natürlich mit Nesselorganen ausgestattet ist, und von wo aus dieselben leicht über den ganzen Schwamm sich verbreiten.


Mantelactinie, am Schneckenhause haftend. Natürliche Größe.
Mantelactinie, am Schneckenhause haftend. Natürliche Größe.

Von der Fütterung der Mantelactinie (Actinia palliata) durch ihren Freund und Wohnungsgeber, den Einsiedlerkrebs, haben wir früher erzählt (S. 19). Ich komme hier nochmals darauf zurück, weil es ein scheinbar unvermitteltes und deshalb schwer oder nicht erklärliches Verhältnis betrifft. Allein so isolirt steht es nicht da. Die Actinien heften sich nur da an, wo die Wasserströmung ihnen Fleischnahrung zuführt. So erhalten die zwischen Flut- und Ebbemarke sitzenden Arten bei jeder Flut eine neue lebendige Umgebung. Von je stärkerer Strömung eine felsige Küste getroffen wird, ein Hafeneingang, ein Molo, um so sicherer kann man neben anderen Thieren auch einer großen Anzahl von Actinien gewärtig sein. Es liegt daher nahe, daß einzelne Actinien-Arten mit der Zeit die Gewohnheit angenommen haben, auf solchen Thieren sich anzusiedeln, deren eigenes Nahrungsbedürfnis sie im bewegten Wasser umhertreibt. Wir sehen, daß die Einsiedlerkrebse mit ihren Schneckenhäusern am geeignetsten gewesen sind, und so finden wir z.B. die große gelb und braun gestreifte Actinia effoeta vorzugsweise mit dem Pagurus striatus associirt, einem der größeren Einsiedlerkrebse des Mittelmeeres, der entsprechend große Schneckenschalen brauchte. Zwei bis drei Exemplare dieser Actinie sitzen oft an einem Pagurus, der ziemlich träge ist und sich um seine Bürde gar nicht bekümmert. In diesem Falle ist die See-Anemone nur durch das Umherwandern ihres Hausherrn im Vortheil für ihre Ernährung. Man sieht aber, wie die besondere Stellung, welche die Mantelactinie zum Krebse einnimmt, nur ein Schritt weiter in der gegenseitigen Angewöhnung ist. Die Stellung der Mantelactinie am Einsiedlerkrebs ist, an sich betrachtet, die unbequemste, die man sich denken kann. Die Mantelactinie besitzt aber in den beiden seitlichen Fußlappen ein Hülfsmittel, den Krebs leicht und sicher zu umfassen und so ihre Lage mit dem Vortheile der leichten Nahrungszufuhr in Uebereinstimmung zu bringen.

Da die Actinien mit den wenigsten Umständen in der Gefangenschaft gehalten werden können, hat man ihre Vermehrung am genauesten beobachtet. Sie gehören zu den nicht zahlreichen Sippen, welche keine Stöcke bilden und deren Fortpflanzung auf die Entwickelung aus den Eiern beschränkt bleibt. Der eifrige Beobachter lebender Thiere, Dalyell, erhielt eine Actinie sechs Jahre lang und zog von ihr zweihundertsechsundsiebzig Junge. Zwei dieser selbst gezogenen Thiere blieben fünf Jahre am Leben, zeugten mit zehn bis zwölf Monaten Eier und lieferten mit zwölf bis vierzehn Monaten Brut. Er sah auch, daß die bewimperten infusorienförmigen Larven nach acht Tagen zur Ruhe gelangten und ihre Wimpern verloren, worauf nach einigen Tagen, während sie sich festsetzten, die ersten Tentakeln zum Vorscheine kamen. Häufig machen die jungen Actinien in der Leibeshöhle der Mutter ihre ganze Verwandlung durch.

Aber auch im freien Zustande sind viele oberflächlicher lebende Arten leicht zugänglich. Wie und wo man die zahlreichen Actinien der britischen Küsten findet, erzählt der um das Halten der niederen Thiere in Aquarien so verdiente Gosse in einem mit vielen guten Kupfern ausgestatteten Buche. Noch eingehender sind Lacaze-Duthiers' Beobachtungen über einzelne Arten, deren [480] Bau er studirte und über deren Vorkommen und Lebensweise er sich behufs der Bearbeitung ihrer Entwickelungsgeschichte unterrichtete. So erfahren wir von ihm über die an der europäischen Küste so gemeine Pferdeactinie eine Menge von Einzelheiten, die uns den Lebenslauf dieses Thieres vor Augen stellen. Er fand die Pferdeactinie längs der Küste des Kanals an allen felsigen Lokalitäten in der Höhe des niedrigsten Wassers, das heißt in der Zone des Blasen- und Sägetanges (Fucus vesiculosus und serratus). Die Farbe variirt zwischen Scharlach, Rosenroth, Dunkelroth, Braun bis Olivengrün, und als specielles Kennzeichen findet sich unter der Fühlerkrone ein Kranz von schönen blauen Warzen. Für den Beobachter eignen sich besonders diejenigen Individuen, welche, um dem direkten Lichte auszuweichen, sich unter den Wölbungen der Felsen angesiedelt haben. Dort hängen sie zur Ebbezeit wie klare, durchsichtige, mit Wasser gefüllte Blasen. Die so aussehenden Individuen scheinen einer eigenen Varietät anzugehören, während eine andere intensiver roth gefärbte mit sehr entwickelten blauen Warzen und grünen Punktreihen, welche den Hauptfühlern entsprechen, jene zu sein scheint, die in Dalyells Aquarium fünf Jahre aushielt. Lacaze-Duthiers fand zwar die letztere Abart auch überall, wo die kleine durchsichtige vorkommt, aber mehr vereinzelt; auch steigt sie in eine etwas größere Tiefe. Sie war vom Juni bis September mit Eiern erfüllt, trug jedoch niemals Larven in sich, während die durchsichtige kleinere Varietät neben jenen gewöhnlich Embryonen von allen Entwickelungsstufen umschloß. Jener ersten steht die Actinia equina des Mittelmeeres sehr nahe; auffallenderweise fand aber Lacaze-Duthiers bei dieser während der ganzen guten Jahreszeit, vom April bis in den Herbst hinein, keine Eier. Auch aus anderen Beobachtungen ergab sich ihm das Resultat, daß die Fortpflanzungszeit der Actinien nach Standort und Art sehr wechselt. Als er bei Dünkirchen einst mitten im Winter bei Schnee und wechselnder Kälte den sandigen Strand durchsuchte, fand er zu seinem Erstaunen eine trächtige kleine Sagartie.

Da wir voraussetzen können, daß mancher Liebhaber »mikroskopischer Gemüths- und Augenergötzungen« bei einem Aufenthalte am Meeresstrande sich die eine und andere Actinie mit ihren Jungen näher ansehen möchte, so lassen wir uns von dem Pariser Zoologen noch erzählen, wie er die Embryonen sammelte und die Thierchen beobachtete. Er sagt: »Die Embryonen der verschiedenen See-Anemonen kann man sich nicht auf dieselbe Weise verschaffen. Das Vorgehen, womit man bei einer frei lebenden zum Ziele gelangt, ist nicht anwendbar bei solchen, die sich in den Sand graben oder in die Felsspalten zurückziehen. In dem Falle, der uns beschäftigt, bei der Untersuchung der Pferdeactinie, kann man die Thiere, welche man für trächtig hält, ablösen, um zu Hause die Jungen aus ihnen heraus zu nehmen. Dabei läuft man aber Gefahr, nicht trächtige Individuen mitzunehmen und Zeit zu verlieren, auch sind die jüngsten Embryonen in den Falten des Leibes sicher sehr schwer zu erkennen. Ich schlug daher folgendes Verfahren ein.

Nicht weit von meiner Wohnung hatte ich eine jener Felshöhlen entdeckt, wo vor dem Sonnenlichte geschützt sich die Actinie anzuheften pflegt, den Fuß nach oben, den Fühlerkranz nach unten. Dorthin ging ich, ausgerüstet mit einem Glasgefäße mit weiter Oeffnung, Uhrgläsern und einem spitzen und scharfen Messer. An der Wölbung der kleinen Grotte suchte ich mir die Thiere aus, welche am vollsten geblieben waren und wie kleine durchscheinende Blasen dahingen. Ich stach sie an und sammelte die Flüssigkeit, die aus der Wunde strömte, und mit ihr die in der Leibeshöhle enthaltenen Embryonen. Damit nichts verloren ginge, schabte ich noch mit einem Uhrglase die angeschnittene Actinie ab und erhielt so auch die jüngsten Entwickelungsstufen. Nach Hause zurückgekehrt, vertheilte ich die am Strande gesammelte Flüssigkeit in kleine Beobachtungsgläser, aus denen ich unter der Lupe diejenigen Jungen, welche ich mit dem Mikroskope beobachten wollte, mit einer seinen Saugröhre aushob. Hat man am Strande eine gute An zahl Actinien geöffnet, so erkennt man an einem schwer zu beschreibenden Etwas schon von außen die trächtigen Individuen.

Oeffnet man eine Mutteractinie, so haben die herausschlüpfenden Jungen eine große Neigung, sich aufzublähen und zu entfalten. Das dauert oft eine oder zwei Stunden, mitunter länger, und [481] ohne Zweifel regt der Wechsel des Aufenthaltes ihre Lebensgeister an und macht sie beweglicher. Man thut also am besten, sie bald nach ihrer künstlichen Geburt zu beobachten, wo die durch das Aufblähen verursachte Durchsichtigkeit und die durch die neue Umgebung gesteigerte Beweglichkeit erlauben, durch die Hautbedeckungen in das Innere des Thierchens zu sehen und es während seiner Drehungen von allen Seiten zu betrachten. Auch kann man die jüngsten Larven nur kurze Zeit nach dem Kaiserschnitt sicher und ohne Zeitverlust finden. Sie sind nämlich träger als die vorgeschrittenen, und man erkennt sie nur an ihren Bewegungen unter allen den in der Flüssigkeit schwimmenden Theilchen. Längere Zeit, nachdem sie die Mutter verlassen, fallen sie auf den Boden des Gefäßes, bewegen sich kaum und sind schwer aufzufinden. Auch diejenigen, welche wohl gebildet und sehr lebendig sind, machen endlich nur eine drehende Bewegung nach einer Richtung und um einen Punkt, so daß man sie nur von einer Seite betrachten kann. Auch ziehen sie sich sehr zusammen, so daß man oft glauben möchte, man hätte zwei verschiedene Entwickelungsstufen vor sich gehabt, wenn man ein und dasselbe Thier unmittelbar nach der künstlichen Frühgeburt und dann einige Stunden später beobachtet.

Von großem Nutzen bei der Untersuchung sind Glasgefäße mit ebenem und dünnem Boden, denn nur mit Hülfe solcher kann man die etwas größeren Embryonen beobachten. In der That sieht man junge Actinien mit schon vierundzwanzig oder achtundvierzig Fühlern sich gleich nach dem Austritte aus der Mutter festsetzen, dann sich aufblähen und entfalten. Diesen Augenblick muß man wahrnehmen, denn später schließen sie sich oft hartnäckig, der Mundring zieht sich gewaltsam zusammen, so daß Fühler und Scheidewände zusammengepreßt werden und man nichts unterscheiden kann.«

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 479-482.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldsteig

Der Waldsteig

Der neurotische Tiberius Kneigt, ein Freund des Erzählers, begegnet auf einem Waldspaziergang einem Mädchen mit einem Korb voller Erdbeeren, die sie ihm nicht verkaufen will, ihm aber »einen ganz kleinen Teil derselben« schenkt. Die idyllische Liebesgeschichte schildert die Gesundung eines an Zwangsvorstellungen leidenden »Narren«, als dessen sexuelle Hemmungen sich lösen.

52 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon