Hydractinia echinata

[460] Eine noch mehr zurückbleibende Form ist die in der Nordsee, an der englischen und norwegischen Küste gemeine Hydractinia echinata.


Gruppe aus einem weiblichen Stocke von Hydractinia echinata. a Nährindividuen, b weibliche Individuen. Vergrößert.
Gruppe aus einem weiblichen Stocke von Hydractinia echinata. a Nährindividuen, b weibliche Individuen. Vergrößert.

Die Art liebt es, sich auf solchen Schneckengehäusen anzusiedeln, welche von Einsiedlerkrebsen als Futterale erkoren sind. Der Polyp hat dadurch den Vortheil des Wechsels des Futterplatzes. So wenigstens hat es den Anschein. Tiefer in das Geheimnis seiner Neigung einzudringen, ist noch nicht gelungen. Es liegt möglicherweise eine ganz andere Ursache für die Anpassung an die unruhige Lebensweise des ihn umherfahrenden Krebses vor. Der gemeinschaftliche Theil des Stockes ist eine der Fläche des Gegenstandes, auf dem die Ansiedelung geschieht, sich anschmiegende Haut, in welcher auch dieselbe chitinöse Schicht sich befindet, aus welcher die einzelnen Polypenröhren bestehen. Die Nährkanäle derselben setzen sich ebenfalls in die Membran mit ihren stachelartigen Erhöhungen fort und ermöglichen ihr Leben und Wachsthum. In einem solchen Stocke sind nur immer zweierlei Personen vereinigt. Immer finden sich Nährindividuen vor (a), welche sich durch ihre Länge und stark entwickelten Fühler, Mund und Verdauungshöhle auszeichnen. Sie sind selbstverständlich ihre eigenen und des Stockes Ernährer. Sie versorgen vermittels des Kanalsystemes des Stockes auch ihre mundlosen Koloniegenossen, welche entweder nur Männchen, oder nur Weibchen (b) sind. Diese tragen am Vorderende statt der Fühler einen Gürtel von Nesselknöpfen und in einiger Entfernung davon einen dichten Kranz einfacher Kapseln mit Eiern. Die aus dem Eie kommende flimmerhaarige Larve setzt sich fest und ist Gründerin einer neuen Kolonie. Die Kapseln tragen nie solche Merkmale an sich, welche an Quallen erinnern könnten, aber alle Quallen, welche sich nach Art der oben beschriebenen an polypenförmigen Zwischenstufen entwickeln, befinden sich einmal auf dem Stadium der Kapsel, welche bei der Hydractinia echinata unzweifelhaft ein bloßes bleibendes Organ ist.

Den Schlüssel dieses höchst interessanten Befundes gibt nur die Abstammungslehre. Es gab eine Zeit, wo gar keine Quallen, sondern nur unsere Polypenformen mit den kapselartigen Fortpflanzungsorganen [460] in den Urmeeren lebten. Erst einzelne, dann mehrere, schließlich viele errangen dadurch einen ihr Dasein begünstigenden Vortheil, daß die Ernährung und mit ihr die Entwickelung der Kapseln durch stärkere Entwickelung der Nährkanäle dieser Organe gefördert wurde. So wurden diese Organe in einzelnen Sippen und Gruppen immer vollendeter, bis ganz allmählich die Theile zu sich ablösenden neuen Individuen geworden sind, und zur Polypengeneration die Quallengeneration sich gesellt hat.

Man hört von den Gegnern der Abstammungslehre, der einzigen mit der Vernunft sich vertragenden Erklärung der Lebewelt, oft den Einwurf, warum, wenn es so vortheilhaft wäre, nicht alle Quallenpolypen die Umwandlung durchgemacht hätten. Darauf ist zu antworten, daß gerade der Umstand, daß es so sei, wie es ist, gegen ein allgemeines sogenanntes Entwickelungsgesetz spreche. Denn wäre ein solches vorhanden, so würde absolut unverständlich bleiben, warum nur eine Anzahl von Quallenpolypen zur höheren Entwickelung aufgestiegen seien. Nur dadurch, daß man den sogenannten Zufall in seine Rechte einsetzt, der dem zu Gute kommt und jenem nicht, ist diese außerordentlich bunte, scheinbar widerspruchsvolle und doch harmonische Welt zu verstehen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 460-461.
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