Familie: Seeigel im engeren Sinne

[428] Die Echinen oder Seeigel im engeren Sinne (Echini) sind diejenigen von regelmäßiger Apfel- oder Laibform, an denen die Afteröffnung dem Mundpole gegenüber liegt, während die Saugfüßchenreihen von einem Pole zum anderen verlaufen. Man erblickt die paarigen Löcher für die Saugfüßchen und Bläschen natürlich am deutlichsten an Gehäusen, welche ganz oder theilweise der Stacheln beraubt sind. Diese sogenannten Ambulacralplatten wechseln mit Reihen solcher Platten ab, welche mit durchbohrten oder nicht durchbohrten Höckern und Buckeln versehen sind. Auf diesen sitzen die Stacheln, an ihrer Basis über dem Buckel von einer mit vielen Muskelfasern versehenen Scheide umgeben und daher nach allen Richtungen beweglich. Am lebenden, in seinem Elemente sich befindlichen Seeigel bemerkt man sehr bald, daß die Stacheln keineswegs bloße Vertheidigungsorgane sind; sie dienen auch als Stützen und als Stelzen und Füße, ja sie können sogar, wie ich unten zeigen werde, als Arme zum Erfassen und Weitergeben von Gegenständen dienen. Höchst eigenthümliche Organe sind die sogenannten Pedicellarien, welche als kleine, aber mit bloßem Auge erkennbare zwei- oder dreischenkelige Zangen auf beweglichen Stielen zwischen den Stacheln über die ganze Körperoberfläche verbreitet sind. Diese, gleich [428] den Stacheln, in außerordentlicher Mannigfaltigkeit vorkommenden Organe sind, wie ihre Entstehung und Entwickelung lehrt, nichts anderes als modificirte Stacheln. Schon O.F. Müller entdeckte sie im vorigen Jahrhunderte, was eben nicht schwer war, da sie ein scharfes Auge recht gut sieht. Aber wegen der sonderbaren schnappenden Bewegungen, die jede einzelne Pedicellarie ausführt, wurden sie von Müller für polypenartige Schmarotzer der Seeigel gehalten. Erst der neapolitanische Zoologe delle Chiaje (1825) erkannte sie als Theile der Hautbedeckungen und hielt sie für Haft- und Greifwerkzeuge, welche besonders dazu dienen sollten, kleine Nahrungstheilchen zu erhaschen und sich einander bis zum Munde zuzureichen. Aber das ist unrichtig, und erst neuerdings haben uns die Beobachtungen von A. Agassiz Aufschluß über die eigenthümlichen Dienste der Pedicellarien gegeben. Wir führten an, daß die Afteröffnung sich gerade oben auf dem Scheitel des kugeligen Körpers befindet. Die Lage ist, muß man eingestehen, für die Reinlichkeit eine sehr ungünstige, wenn – die Pedicellarien nicht wären. Diese nämlich fassen die in kleinen Brocken erscheinenden Exkremente und geben sie ihren Nachbarn bis über die Wölbung des Gehäuses hinaus, wo die Exkremente ohne weitere Gefahr der Verunreinigung ins Wasser fallen können.


Pedicellarien. a eine zweizinkige; b dieselbe geöffnet; c eine dreizinkige. 20mal vergrößert.
Pedicellarien. a eine zweizinkige; b dieselbe geöffnet; c eine dreizinkige. 20mal vergrößert.

»Nichts ist merkwürdiger und unterhaltender«, sagt A. Agassiz, »als die Geschicklichkeit und Ordnung zu beobachten, womit dieses Geschäft verrichtet wird. Man kann sehen, wie die ausgeworfenen Theile sehr schnell die Streifen passiren, wo die Pedicellarien am dichtesten stehen, als ob es ebensoviele Abfuhrstraßen wären; auch stellen die Zangen ihre Arbeit nicht eher ein, als bis die ganze Oberfläche des Thieres durchaus gereinigt ist. Diese kleinen merkwürdigen Organe haben jedoch noch andere, als diese löblichen und nützlichen Geschäfte von Gassenkehrern. Sie sind über den ganzen Körper vertheilt, während sie die Exkremente nur längs bestimmter Wege fortschaffen. Besonders zahlreich finden sie sich um den Mund herum, wo sie kürzer und fester sind.

Bei genauer Beobachtung der Bewegungen der Pedicellarien bemerken wir, daß sie außerordentlich thätig sind, indem sie ihre Zangen unaufhörlich öffnen und schließen, sich nach allen Richtungen hinausstreckend; da die Biegsamkeit der Stielscheide ihnen gestattet, sich nach allen Winkeln und Ecken zwischen den Stacheln zu bewegen, so gelingt es ihnen gelegentlich auch, irgend eine unglückliche kleine Krustacee, einen Wurm oder ein Weichthier zu packen, die sich zwischen den Stacheln verwickelt haben. Doch scheinen sie ihre Beute nicht zum Munde zu führen (wenigstens habe ich nie Seeigel auf diese Weise erfaßte Nahrung fressen sehen), sondern nur von der Körperoberfläche zu entfernen, wie andere schlechte Stoffe. Ihre Art zu fressen (sie weiden gewissermaßen mit ihren scharfen Zähnen die Oberfläche der Felsen ab) scheint auch nicht die Annahme zu begünstigen, daß die Pedicellarien als Eßzangen benutzt werden.«

Auch noch andere Organe auf der Oberfläche des Seeigels sind in Bezug auf ihren Nutzen ziemlich räthselhaft. So liegen in fünf bestimmten Platten um den Rückenpol herum fünf rothe punktförmige Organe, welche nach der Lage zu den Ambulacren und ihrem Verhältnisse zum Nervensysteme sicher den zweifellosen Augen der Seesterne entsprechen. Richtige, bilderzeugende Augen sind es indeß gewiß nicht, und ihre Lage ist in der That fast komisch. Ich finde nicht, daß jemand sich die Frage ernstlich vorgelegt hat, was wohl dem Seeigel seine Augenpunkte nützen könnten. Sie sind den Richtungen, in welchen die Thiere sich fast ausnahmslos bewegen, so abgewendet, daß eine direkte Orientirung durch die obendrein zwischen den Stacheln und Pedicellarien versteckten Augen ganz unmöglich erscheint. Nur die Erklärung möchte ich für annehmbar [429] halten, daß die Seeigel-Augen rudimentäre Organe sind, von Vorfahren herstammend, wo sie, ähnlich wie bei den Seesternen, eine vortheilhafte Lage einnahmen.

Erst in neuerer Zeit hat der schwedische Zoolog Sven Lovén noch eine neue Art mikroskopischer Organe bei allen seeigelartigen Stachelhäutern entdeckt, welche er Sphäridien oder Kugelorgane nannte. Es sind ellipsoïdische, kugelige Körperchen in der Nähe des Mundes und auf den unteren Ambulacralplatten. Sie nähern sich in ihrem feineren Baue den Stacheln, aber aus ihrer Stellung, oft in kleinen Grübchen und unter anderen Schutzvorrichtungen, sowie dem Umstande, daß sie mit besonderen Nerven versehen sind, läßt sich der Schluß ziehen, daß sie Sinneswerkzeuge sind. Lovén möchte sie für eine Art von Geruchswerkzeugen halten.


Zahngerüst des Stein-Seeigels. Natürliche Größe.
Zahngerüst des Stein-Seeigels. Natürliche Größe.

Unter allen Sippen der Ordnung sind die Echinen mit dem stärksten Kauapparate ausgestattet. Das Gerüst wird von dreiseitigen, fast pyramidalen Stücken mit mehreren Nebenknöchelchen zusammengesetzt, in deren jedem ein langer, am freien Ende recht fester Zahn enthalten ist. a ist das Ganze, b eine isolirte Zahnpyramide von der inneren Seite, c dieselbe von oben. Der in d abgebildete, mit fünf Ohren versehene Kalkring befindet sich als Theil der Schale im Umkreise des Mundausschnittes am Gehäuse und dient zur Fixirung und Stütze des Gebisses.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 428-430.
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