Kurzstacheligen Seeigel (Toxopneustes brevispinosus)

[431] Erst jetzt, im Sommer 1875, hat Dohrn eine thatsächliche Erklärung jenes Eifers mancher Seeigel, sich mit verschiedenen Gegenständen zuzudecken, versucht, indem er von ähnlichen Erscheinungen bei den höheren Krebsen ausging (s. Seite 15). Er beobachtete den im Mittelmeere ebenfalls sehr häufig vorkommenden kurzstacheligen Seeigel (Toxopneustes brevispinosus). Er sagt: »Man wird selten ein Exemplar dieses Seeigels im Aquarium finden, das nicht auf der aboralen (Rücken-) Seite eine Anzahl von Muschelschalen mittels seiner Saugfüßchen festhielte. Das geht sogar so weit, daß ich mehrfach Toxopneustes mit so viel Muschelschalen besetzt fand, daß von dem Thiere selbst gar nichts mehr zu sehen war. Ich zählte auf einem Exemplare von zwei Zoll Durchmesser sechsundzwanzig Muschelschalen, jede von etwa einem Zoll Länge und einem halben Zoll Breite. Bei der Fortbewegung des Thieres wird also der Eindruck hervorgerufen, als käme ein Haufen Muscheln näher. Diese, an ›mimicry‹ erinnernde Thatsache, scheint mir auch in der That die Explikation derselben zu sein. Ich habe mehrfach Beobachtungen und Experimente über die Ernährungsweise dieser Seeigel gemacht und habe gefunden, daß sie gefährliche Räuber sind. Am auffallendsten war es mir, daß sie besonders gern Squilla mantis (Heu schreckenkrebs; s. Seite 30) fressen. Man sollte meinen, diesem großen Krebse müßte es ein Leichtes sein, dem kleinen und langsam sich bewegenden Echinoderm aus dem Wege zu gehen. Es ist aber Thatsache, daß, wenn ich ein Dutzend Squilla in dasselbe Bassin setzte, in welchem ebensoviel Toxopneustes sich befanden, in acht bis zehn Tagen sämmtliche Squilla von den Seeigeln aufgefressen waren. Ich habe oft gesehen, wie die Seeigel ihre Beute ergriffen. Indem sie sich fortbewegen, setzen sie einige Saugfüßchen auf irgend einen Körpertheil des Krebses. Der Krebs fühlt es und will entrinnen, aber rasch entsendet der Seeigel weitere Hülfstruppen, und aus allen benachbarten Bezirken spannen sich die Ambulacralfüßchen in weiten Bögen, bis sie die Squilla erreichen. Nun läßt der Echinus all die Füßchen los, die ihn zu weit vom Krebse entfernt halten, und rückt dem Opfer näher, das vergebliche Anstrengungen macht, zu fliehen. Indem der Echinus sich mit dem einen Theile der Saugfüßchen an einem Felsen oder an der Glasscheibe des Bassins festhält, schiebt er den Krebs mittels der übrigen Füßchen langsam um seinen Körper herum, bis er in den Bereich des Mundes kommt. Dann fängt er an, ihn aufzufressen. Das dauert gewöhnlich mehrere Tage. Sehr häufig gesellen sich noch ein oder zwei andere Toxopneustes hinzu, und die Mahlzeit wird [431] gemeinsam gehalten. Ich habe öfters beobachtet, daß ein Toxopneustes im Stande ist, eine Squilla von sechs Zoll Länge zu fangen, indem er mittels der Saugfüßchen die breite Platte der äußeren Antennen ergriff. Der Krebs machte große Anstrengungen durch Körperbewegungen, besonders durch Umbeugen des Hinterleibes sich plötzlich loszureißen, aber meist brachte er seinen Körper durch sein Ungestüm in größere Nähe des Feindes, und die weit ausgespannten Saugfüßchen hefteten sich sofort auch auf andere Körpertheile fest.


Entwickelung des Strongylocentrotus Dröbachiensis, Fig. 1-8.
Entwickelung des Strongylocentrotus Dröbachiensis, Fig. 1-8.

Es ist begreiflich, daß einem so furchtbaren Feinde, gegen den es kaum eine andere Vertheidigung, als Flucht gibt, vor allen Dingen aus dem Wege gegangen werden muß. Ebenso begreiflich scheint es dann auch, daß der Angreifer sich zu verstecken sucht, – und auf diese Tendenz schiebe ich die sonderbare Neigung der Echinen, sich mit Muschelschalen zu bedecken, die sehr viel harmloser aussehen, als der Stachelpanzer des gefürchteten Echinoderms.« Wir müssen zugeben, daß für die von Dohrn so sorgsam beobachtete Art die Erklärung des Muscheltragens etwas Verlockendes hat. Allein kein anderer Beobachter hat bisher von einem fleischfressenden Seeigel berichtet, während von Agassiz eine ganze Reihe von Arten namhaft gemacht worden sind, welche immer oder gelegentlich sich Löcher in Felsen aushöhlen und damit unbedingt, wie unser Stein-Igel, auf größere Thiere als Nahrung verzichten müssen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 431-432.
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