Muschelthierchen (Stylonychia mytilus)

[547] Alle diejenigen Sippen, welche, meist von flacher, muschelförmiger Gestalt, nur auf einer Körperseite bewimpert sind, faßt Stein als die Ordnungsgruppe Amphitricha zusammen. Dahin als eine der gemeinsten Sippe Waffenthierchen (Stylonychia) und wiederum die gegen [547] 1/4 Millimeter lange Art Muschelthierchen (Stylonychia mytilus). Es ist sehr wenig wählerisch in Bezug auf die Gewässer, in denen es fortkommt und sich zu unzählbaren Mengen multiplicirt. In der Abbildung wendet es uns die allein mit Wimpern verschiedener Art besetzte Bauchseite zu. Eine große, sich nach unten verengende Bucht (a) ist mit Wimpern umsäumt, durch deren Strudel der eigentlichen, im Grunde dieses Spaltes befindlichen Mundöffnung Nahrung zugeführt wird; auch schwimmt das Thier in stetiger, gleichförmiger Bewegung mittels dieser Wimpern und der beiden Wimperreihen, welche rechts und links über den Körperrand hervorragen. Es kann aber auch gehen, indem es sich auf die Spitzen der gekrümmten stärkeren Wimpern und der griffelförmigen starken Wimpern in der Nähe des Hinterendes stützt. Die drei hinten ausgestreckten Borsten sind unbeweglich. Mit diesen reichen Bewegungsmitteln ausgestattet, klettert es mit großer Behendigkeit zwischen den mikroskopischen Pflänzchen umher, fast ununterbrochen Speise, kleine Arten der eigenen Klasse und mikroskopische Algen in den Schlund hinabstrudelnd.


Muschelthierchen (Stylonychia mytilus). Natürl. Größe 1/4 Millim.
Muschelthierchen (Stylonychia mytilus). Natürl. Größe 1/4 Millim.

Ein nie mangelndes Organ ist die Blase b, welche in ziemlich regelmäßigen Pausen von zehn oder zwölf Sekunden sich zusammenzieht und ihren wasserklaren Inhalt durch eine feine Oeffnung nach außen entleert.

Obgleich die kontraktile Blase bei den meisten Arten eine ganz bestimmte Stelle einnimmt und nach dem Zusammenziehen sich jedesmal genau zum ehemaligen Umfang ausdehnt, oder, was dasselbe besagt, wieder anfüllt, kann man ihr doch nicht im eigentlichen Sinne des Wortes eine Begrenzungshaut zuschreiben. Sie ist eine Höhlung in der Rindenschicht des Körpers, welche aus ganz dickflüssigem Protoplasma besteht. Damit hängt auch zusammen, daß die oben erwähnte Oeffnung auch keine regelrechte, durch Zusammenziehung ihrer Umgebung sich schließende Oeffnung zu sein scheint, sondern ein feiner, bei jeder Zusammenziehung des Organs entstehender Riß, der durch Zusammenfließen des Protoplasma sich wieder schließt. In der Mittellinie des Leibes erblicken wir ferner zwei rundliche Körper (c), welche man als Kerne (nucleus) bezeichnet. Dieselben sind lange Zeit für die Fortpflanzungsorgane der Infusorien gehalten worden, indem man ihren Zerfall in wahre Eier beobachtet haben wollte, oder kugelige Keime aus ihrer Theilung hervorgehen ließ. Diese sollten sich zu bewimperten Sprößlingen entwickeln. Neuere Beobachtungen haben indessen diese angebliche Vermehrung in ein sehr zweifelhaftes Licht gestellt. Der oder die Kerne scheinen vielmehr die Bedeutung von wirklichen Zellkernen oder ähnlichen Gebilden zu haben und bei der Theilung und der sogenannten Konjugation eine wichtige Rolle zu spielen, indem sie erst zerfallen und damit zur Bildung neuer Kerne und zur Verjüngung des ganzen Körpers Veranlassung geben.

Die Konjugation ist gerade bei der Stylonychia gründlich beobachtet worden. Es legen sich zwei Thiere aneinander und verschmelzen zum Theil miteinander, während welcher Zeit die Umformung der Kerne vor sich geht. Die frühere Meinung, daß die Konjugation die Einleitung zur Bildung von Keimsprößlingen sei, welche ihre Mutterkörper durchbrechen und während eines Schwärmzustandes eine bedeutende Verwandlung durchmachten, hat einer gänzlich anderen Deutung Platz machen müssen. Bütschli, einer der neuesten und geschicktesten Beobachter dieser zu vielen Täuschungen Veranlassung gebenden Verhältnisse, sagt darüber: »Ich habe die vermeintlichen Embryonalkugeln von außen in konjugirte Stylonychia eindringen, sich hier vermehren und wieder ausschwärmen sehen, und habe den experimentellen Beweis für die parasitische Natur dieser Embryonen ferner dadurch geliefert, daß ich ein mit ihnen inficirtes Thier mit einem nicht angesteckten [548] unter dem Deckgläschen zusammensperrte und nun gesehen habe, wie dieses letztgenannte Thier von den aus dem ersteren hervorgegangenen (vermeintlichen) Embryonen angepackt wurde, daß dieselben in jenes eindrangen und zu sich vermehrenden Embryonalkugeln wurden.«

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 547-549.
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