[560] Wir halten uns zur Beobachtung niederer Seethiere an irgend einem Punkte der Gestade des Mittelmeeres auf und haben von einem mit Algen bewachsenen Felsen eine kleine Portion Pflanzen mit dem ihnen anhaftenden Sande und Schlamme in einem größeren Glasgefäße mit reichlichem Wasser seit einigen Tagen auf dem Zimmer stehen. Alles gröbere Gethier, was ohne weiteres dem unbewaffneten Auge sichtbar und mit einer feinen Pincette gefaßt werden kann, zierliche Rissoen-Schnecken, Krebschen, Würmer, sind möglichst entfernt worden, da unsere Absichten auf andere Erscheinungen gerichtet sind. Indem wir nun die Wand des Gefäßes mit der Lupe abmustern, sehen wir hier und da ein bräunliches Körnchen haften und bemerken sogar an den größeren Exemplaren, daß sie von einem zartesten Netz und Strahlenkranz leichter Fäden umgeben sind. Vorsichtig wird einer der Körper unter das Mikroskop gebracht. Das Fadennetz ist zwar zunächst verschwunden, es ist zurückgezogen in die eiförmige, ziemlich elastische Schale, bei einiger Geduld sehen wir es aber wieder zum Vorscheine kommen. Der Abbildung, welche ich nach einer lebenden eiförmigen Gromie (Gromia oviformis) entworfen, füge ich die Beschreibung eines der ausgezeichnetsten Kenner der Wurzelfüßer bei, Max Schultze, aus welcher das Wesen dieser sonderbaren Geschöpfe klar hervorspringen wird.

»Nach einiger Zeit vollständiger Ruhe werden aus der einfach vorhandenen großen Oeffnung der Schale feine Fäden einer farblosen, durchsichtigen, äußerst feinkörnigen Masse hervorgeschoben. Die zuerst hervorkommenden suchen tastend umher, bis sie einen festen Körper (hier die Oberfläche des Glases) gefunden haben, an welchem sie sich in die Länge ausdehnen, indem aus dem Inneren der Schale nur Masse nachfließt. Die ersten Fäden sind äußerst fein, bald entstehen jedoch auch breitere, die wie die ersten in schnurgerader Richtung schnell an Länge zunehmen, auf ihrem Wege sich oft unter spitzen Winkeln verästeln, mit nebenliegenden zusammenfließen, um ihren Weg gemeinschaftlich fortzusetzen, bis sie, allmählich immer feiner werdend, eine Länge erreicht haben, welche die des Thierkörpers um das sechs- bis achtfache übertrifft. Haben sich die Fäden auf diese Weise von der vor der Schalenöffnung nach und nach angehäuften größeren Masse feinkörniger, farbloser, kontraktiler Substanz nach allen Richtungen ausgestreckt, so hört das Wachsen der Fäden in die Länge allmählich auf. Dagegen werden jetzt die Verästelungen immer zahlreicher, es bilden sich zwischen den nahe bei einander liegenden eine Menge von Brücken, welche bei fortwährender Ortsveränderung allmählich ein proteisch veränderliches Maschensystem darstellen«. Ich schalte hier ein, daß, wenn das Thier bequem liegt und Zeit hat, es allmählich die ganze Außenfläche der Schale mit einer dünnen, oft netzförmig durchbrochenen Schicht der beweglichen Masse umkleidet. [560] »Wo an der Peripherie des Sarkodenetzes, wie wir das zarte Gewebe nennen wollen, sich mehrere Fäden begegnen, bilden sich aus der stets nachfließenden Substanz oft breitere Platten aus, von denen wieder nach mehreren Richtungen neue Fäden ausgehen. Betrachtet man die Fäden genauer, so erkennt man in und an denselben strömende Körnchen, welche, aus dem Inneren der Schale hervorfließend, längs der Fäden ziemlich schnell nach der Peripherie vorrücken, am Ende der Fäden angekommen umkehren und wieder zurückeilen. Da gleichzeitig jedoch immer neue Kügelchenmassen nachströmen, so zeigt somit jeder Faden einen hin- und einen rücklaufenden Strom. In den breiten Fäden, die zahlreiche Kügelchen enthalten, lassen sich die beiden Ströme stets gleichzeitig erkennen, in den feineren jedoch, deren Durchmesser oft geringer als der der Kügelchen ist, sind diese seltener. Dieselben erscheinen hier auch nicht im Inneren des feinen hyalinen Fadens eingebettet, sondern laufen auf der Oberfläche desselben hin.


Eiförmige Gromie (Gromia oviformis). 600mal vergrößert.
Eiförmige Gromie (Gromia oviformis). 600mal vergrößert.

Kommt ein solches Kügelchen auf seinem Wege an eine Theilungsstelle des Fadens, so steht es oft eine Zeitlang still, bis es den einen oder den anderen Weg einschlägt. Bei brückenförmigen Verbindungen der Fäden fließen auch die Kügelchen von einem zum anderen über, und da begegnet es nicht selten, daß ein centrifugaler Strom von einem centripetalen erfaßt und zum Umkehren gezwungen wird. Auch im Inneren eines breiteren Fadens beobachtet man zuweilen ein Stillstehen, ein Schwanken und schließliches Umkehren einzelner Körperchen.

Die Fäden bestehen aus einer äußerst feinkörnigen Grundmasse. Ein Unterschied von Haut und Inhalt existirt an denselben nicht. – Die regelmäßig auf- und absteigende Bewegung der Kügelchen läßt sich nur erklären als hervorgebracht durch das Hin- und Zurückströmen der aus dem Inneren der Schale stammenden, fließendem Wachs zu vergleichenden, homogenen kontraktilen Substanz, welche in der einen Hälfte jedes Fadens eine centrifugale, in der anderen eine centripetale Richtung verfolgt und natürlich die größeren Kügelchen, welche uns allein von der Gegenwart einer solchen Bewegung in Kenntnis setzen, mit sich führt.

Stoßen die Fäden auf ihrem Wege an irgend einen zur Nahrung brauchbar erscheinenden Körper, eine Bacillarie (einzellige Kiesel-Alge), einen kürzeren Oscillatorienfaden, so legen sie sich an denselben an und breiten sich über ihm aus, indem sie mit benachbarten zusammenfließen. So bilden sie eine mehr oder weniger vollständige Hülle um denselben. In dieser, wie in den Fäden, hört die Strömung der Kügelchen jetzt auf. Die Fäden krümmen und verkürzen sich, fließen bei diesen Bewegungen immer mehr zu einem dichten Netz, oder zu breiteren Platten zusammen, bis die Beute führende Masse der Schalenöffnung nahe gekommen ist und schließlich [561] in dieselbe zurückgezogen wird. Ganz ähnliche Erscheinungen beobachtet man auch, wenn die Fäden aus irgend einem anderen Grunde sich zurückziehen. Die regelmäßigen Körnchenströme stehen still, die Fäden krümmen sich, indem sie von dem Glase, an dem sie sich festgeheftet hatten, loslassen, fließen häufiger als vorher zusammen und gelangen endlich als unförmliche, zersetzter organischer Substanz ähnlich sehende Masse zur Schalenöffnung, in welche sie langsam aufgenommen werden.«

Diese Beschreibung der veränderlichen, fließenden Fortsätze, welche, einem Wurzelgeflecht gleichend, der ganzen Klasse den Namen der Wurzelfüßer (Rhizopoda) verschafft haben, ist in allen Zügen wahr. Wir entnehmen also daraus, daß bei ihnen eine und dieselbe formlose Substanz für die Bewegung, Ernährung und Empfindung sorgt. Die von fremden Körpern berührten veränderlichen Fortsätze ziehen sich zusammen, sie werden als Fühlfäden vorgestreckt. Das Maß der Empfindung, welche sie vermitteln, kann man sich allerdings nicht gering genug vorstellen, indem mit der Vereinfachung der ganzen Organisation sich auch die Grenzen zwischen einer, wenn auch noch so schwachen Empfindung und einer bloßen Reizbarkeit vermischen. Im Inneren der Schale unserer Gromie ist auch nur kontraktile Masse enthalten. Es pflegen veränderliche Blasenräume darin aufzutreten, und regelmäßig findet man im Hintergrunde der Schale einige kugelige Kerne, die wohl in näherer Beziehung zur Vermehrung stehen.


Junge Arcelle (Arcella vulgaris). a Stück der Schale. 600mal vergrößert.
Junge Arcelle (Arcella vulgaris). a Stück der Schale. 600mal vergrößert.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 560-562.
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