Nickendes Glockenthierchen (Epistylis nutans)

[549] Außer der Form, wo jedes Individuum für sich auf einem Stiele isolirt ist, gibt es eine zweite Hauptform, Carchesium, bei welcher der Stiel mit der Bildung von Knospen sich verästelt und wahre Vorticellenbäume entstehen. Ich kenne kaum ein lieblicheres mikroskopisches Schauspiel, als solch einen lebendig bewegten Blumenstock, wenn bald einzelne Blumen oder die auf einem gemeinsamen Aste befindlichen zusammenzucken, bald der ganze Baum, wie elektrisch getroffen, zusammenfährt, um sich langsam wieder zu entfalten. Das Zusammenschnellen geschieht durch ein den hohlen Stiel durchziehendes muskelartiges Band, dessen noch andere Formen, einzeln und verästelt, ermangeln. Diese letzteren bilden die Untergattung Epistylis, der unsere (S. 550) abgebildete Art, das nickende Glockenthierchen, angehört. Es führt seinen Specialnamen von der Eigenthümlichkeit, daß es, erschreckt oder gestört, an der Uebergangsstelle vom Körper zum Stiel umknickt. Die Kennzeichen der Glockenthierchen haben wir, außer in den berührten, in ihrem nackten, vorn gewöhnlich schiefen Körper. Hier findet sich entweder ein schief aufgesetzter Deckel, unter dessen hervorstehendem Rande die Mundöffnung liegt, oder es ist, wie bei Epistylis, eine förmliche Ober- und Unterlippe mit Wimperbesatz ausgebildet, zwischen denen der tief in den Leib hinabragende [549] Mundtrichter beginnt. Dicht darunter sieht man die kleine kontraktile Blase und dahinter eine einfache gekrümmte, bandförmige Drüse, an Stelle der beiden elliptischen Kerne der Stylonychia. Ueber die Bildung der Epistylis-Bäumchen hat Stein folgendes beobachtet. »Die Thiere eines Bäumchens und damit auch die Aeste desselben vermehren sich durch Längstheilung der schon vorhandenen Thiere. Noch ehe die von vorn und hinten einander entgegenkommende Einschnürung bis zur vollständigen Sonderung zu zwei neuen Individuen vorgerückt ist, sieht man schon, wie die von einander getrennten Basalenden der neuen Individuen auf ganz kurzen partiellen Stielen sitzen, die also bald nach dem Beginne des Theilungsprocesses aus den frei werdenden Körperbasen ausgeschieden werden müssen. Ist die Längstheilung vollendet, so sind die besonderen Stiele jedes Individuums immer noch sehr kurz. Bei ihrer weiteren Verlängerung, die natürlich immer nur an der Stelle, wo sie mit dem Thierkörper zusammenhängen, erfolgt, eilt häufig das eine Individuum dem andern voraus, und das Individuum auf dem längeren Stiele schickt sich dann auch früher zu einer neuen Theilung an, als sein Gefährte von derselben Generation, und die Folge davon ist eben, daß die Thiere eines Bäumchens nicht alle in gleicher Höhe liegen.

Nicht immer endigen die sämmtlichen Aeste eines Bäumchens in Thieren, sondern einzelne Aeste sind von den Thieren, welchen sie selbst ihren Ursprung verdanken, verlassen worden.


Nickendes Glockenthierchen (Epistylis nutans). Natürl. Größe der Glocken 1/10 Millim.
Nickendes Glockenthierchen (Epistylis nutans). Natürl. Größe der Glocken 1/10 Millim.

Dem Ablösen der Thierchen scheint niemals die Bildung eines Wimperkranzes am hinteren Körperende vorauszugehen«, wie solches bei den übrigen Glockenthierchen und namentlich auch den sich ablösenden Knospen stattfindet. Die abgelösten Thierchen bleiben ausgestreckt und schwimmen mittels ihres Stirnwimperkranzes im Wasser umher, um an einer anderen Stelle später die Grundlage eines neuen Bäumchens zu werden. Sehr häufig traf ich einzelne Individuen, welche eben erst ein Rudiment eines Stieles aus ihrer Basis ausgeschieden hatten. Eben so häufig fand ich Stämmchen, die nur erst zwei (unsere Abbildung) oder drei Thierchen trugen.

Die Kolonien der Vorticellen erregten schon vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Aufmerksamkeit der Mikroskopiker. Sie wurden Trichterpolypen, auch Afterpolypen genannt, und Rösel und seine Zeitgenossen wußten, daß sie sich gern auf Schwimmkäfern und Wasserschnecken ansetzen und dem unbewaffneten Auge wie ein Schimmel sich darstellen. »Es kamen mir, erzählt er in den Insektenbelustigungen, dergleichen Käfer in dem Wasser, worinnen ich sowohl Armpolypen als Afterpolypen suchte, unter anderen Wasserinsekten öfters vor. Da ich nun aber keineswegs vermuthete, daß das, was an ihnen hing, ein Haufen lebendiger Kreaturen wäre, sondern solches für einen Schimmel hielte, so ließ ich sie öfters, ohne auf selbige zu achten, dahin schwimmen. Weil es aber des Schimmels sehr viele Arten gibt, so bekam ich einmal Lust, diesen an dergleichen Käfern hängenden Schimmel ebenfalls zu untersuchen. Ich brachte also einen solchen Käfer unter mein zusammengesetztes Mikroskopium. Was den vermeinten Schimmel anbelanget, so bestande derselbe aus lauter lebendigen Kreaturen, wovon ich durch ihr beständiges Zucken, welches allen Afterpolypen eigen ist, mehr als zu gewiß versichert wurde.«

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 549-550.
Lizenz:
Kategorien: