Familie: Terebrateln (Terebratulidae)

[99] Wir wollen unsere Studien an die in der heutigen Welt verbreitetste Familie der Terebrateln (Terebratulidae) anknüpfen. An allen Sippen fällt uns sogleich die Ungleichheit der beiden Schalenhälften oder Klappen auf; die eine ist bauchig, größer als die andere und am Schnabel durchbohrt. Durch dieses Loch tritt ein kurzer, sehniger Stiel hervor, womit das Thier an unterseeische Gegenstände angeheftet ist.


Rückenklappe von Terebratulina caput serpentis.
Rückenklappe von Terebratulina caput serpentis.

An den vom Thiere und der thierischen Substanz überhaupt befreiten Schalen sieht man nun bei dem Versuche, die Klappen von einander zu entfernen, daß sie in der Nähe des Schnabels in der Art mit einander verbunden sind, daß ein paar Zähne der größeren Klappe in Gruben der kleineren Klappe aufgenommen sind. Sie können nicht, wie die Muschelschalen, auseinander fallen, obschon sie das elastische Band jener (s. unten) nicht besitzen. Aus der Lage des Thieres und der Lagerung seiner Theile orientirt man sich dahin, daß jene größere bauchige Schalenhälfte als Bauchklappe, die andere als Deckel- oder Rückenklappe zu bezeichnen ist. Von der Schloßgegend der letzteren ragt ein zierliches schleifenförmiges Kalkgerüst nach dem gegenüberliegenden freien oberen Rande hin, in dessen verschiedener Entwickelung und Gestalt man willkommene Anhaltspunkte für eine gründliche Systematik der Familien und ihrer Unterabtheilungen gefunden hat. Auch an den gut erhaltenen Schalenresten der vorweltlichen Brachiopoden ist Form und Ausdehnung dieses Gerüstes wohl zu erkennen und aus demselben auf die Beschaffenheit der wichtigen Organe zu schließen, von welcher die Klasse ihren wissenschaftlichen Namen erhielt. Sowohl das Schließen wie das Oeffnen der Klappen geschieht durch Muskeln, die jedoch eine zu specielle Beschreibung verlangen, als daß wir darauf eingehen könnten; übrigens verweise ich unten auf Thecidium.

Das Kalkgerüst dient nämlich als Träger und Stütze zweier spiralig eingerollten, mit längeren Fransen besetzten Lippenanhänge oder Arme. Wie man sieht, nehmen dieselben den größten Theil [99] des Gehäuses ein, indem sie vom Munde (o) ausgehen, unterhalb welches sie durch eine ebenfalls gefranste häutige Brücke verbunden sind. Der gewundene Stiel und Schaft der Arme ist nur geringer Bewegungen fähig, auch die Fransen sind ziemlich steif, alle diese Theile aber von Kanälen durchzogen. Sie sind dadurch in hohem Grade geeignet, als Athmungswerkzeuge zu dienen. Es hat sich zwar gezeigt, daß sie ihrem Namen als Arme wenig Ehre machen, indem, abgesehen von Rhynchonella, von einem Hervorstrecken aus dem Gehäuse und Ergreifen der Nahrung keine Rede ist, indem sie aber – wiederum wie die meisten derartigen Athmungsorgane – mit Flimmerhärchen bedeckt sind, gleitet infolge der hierdurch erregten Wasserströmung die fein zertheilte Nahrung bis zur Mundöffnung. Der Darmkanal ist kurz und endigt bei x blind.

Die bisher besprochenen, beim Oeffnen der Klappen zunächst in die Augen fallenden Theile sind von zwei dünnen Mantelblättern umhüllt, welche sich eng an die Klappen anschmiegen und dieselben absondern. In gefäßartigen Ausweitungen dieser Blätter liegen auch Fortpflanzungsorgane, welche von höchster Einfachheit sind. Die Geschlechter sind getrennt und in einigen Fällen an der verschiedenen Form der Schale zu erkennen.

Zu den Nebenorganen gehört ein Paar von häutigen Trichtern, welche inwendig flimmern, mit ihrem freien offenen Ende die Eier aufnehmen und nach außen leiten.


Larve des Thecidium mediterraneum. Vergrößert.
Larve des Thecidium mediterraneum. Vergrößert.

Auch dem männlichen Geschlechte fehlen die entsprechenden Ausführungsgänge nicht. Wir erwähnen dieses minutiöse anatomische Detail, weil aus der Vergleichung der zwei Trichter mit den sogenannten Segmentalorganen der Würmer ein schwerwiegender Beweisgrund für die Verwandtschaft beider Gruppen hergeleitet worden ist.

Diese Verwandtschaft wird nun ganz wesentlich auch durch die Entwickelungs- und Verwandlungsgeschichte der Muschelwürmer bekräftigt, daher wir, ehe wir das Vorkommen und Stilleben einiger Gattungen schildern, diese Verhältnisse näher beleuchten. Bis vor kurzem besaßen wir nur über die unten näher beschriebene mittelmeerische Brachiopode, Thecidium mediterraneum, durch den Pariser Zoologen Lacaze-Duthiers nähere Kenntnis, aber nur bis zu einer Stufe, von wo aus die weitere Entwickelung nicht erschlossen werden konnte. Die Eier, welche sich entwickeln sollen, gerathen in eine von dem unteren Mantellappen gebildete Tasche. In dieselbe senken sich auch die beiden zunächst liegenden Armfransen, welche dicker werden und gegen ihre Enden zu ein Paar Wülsten anschwellen, um welche sich die Eier gruppiren, und mit welchen jeder Embryo vermittels eines kurzen Bandes geradezu verwächst. Der Embryo erhält nun, nachdem er sich zuerst wie eine Mundsemmel gestaltet hat, das Ansehen von einem kurzen (a) plumpen Ringelwurme. Unsere Abbildung zeigt den am weitesten vorgeschrittenen Zustand, welcher von Lacaze-Duthiers beobachtet wurde. Der obere Fortsatz ist der vom Nacken ausgehende Stiel, durch welchen das kleine Wesen an die in die Brusttasche ragenden Armfransen befestigt ist. Der vorderste kleinere Abschnitt nimmt sich aus wie ein Kopf; er trägt vier Augenpunkte und eine Vertiefung, den künftigen Mund. Zwei dickere mittlere Abschnitte sind von einem vierten kleineren fortgesetzt, alle mit Flimmercilien besetzt.

[100] Morse und Kowalewsky haben gezeigt, wie die Verwandlung vor sich geht. Der hinterste Abschnitt wird zum Anheften benutzt, der Kopf und der kragenartige Ring senken sich in einen Aufschlag hinein, welcher von dem folgenden Ringe gebildet wird. Dieser Aufschlag wächst mehr und mehr nach oben und bildet die so oft dem Hautmantel der Muscheln verglichenen beiden Lappen, von denen die Absonderung des Gehäuses ausgeht. Die Abbildung b (Seite 100) zeigt, wie das junge Thecidium, sich in sich zurückziehend, gleichsam Abschied nimmt vom bisherigen freien Leben, um von nun an in fremdartiger Gestalt sich einer einsiedlerischen Beschaulichkeit zu ergeben. Verfolgen wir diese Verwandlung in ihren Hauptstufen an Kowalewsky's Hand noch an einer anderen Gattung, Argiope. Wir sehen in Figur a die dreigetheilte Schwärmlarve. Der mit Flimmern besetzte Schirm entspricht dem Kopfe und dem Kragensegmente des Thecidium. Der mittlere, größte Körperabschnitt birgt zwei Muskeln, die später sich nach dem Stiele herabsenken.


Verwandlungsstufen von Argiope. Stark vergrößert.
Verwandlungsstufen von Argiope. Stark vergrößert.

Die nach unten gerichtete kreisförmige Hautfalte mit den hervorstehenden Nadelbündeln trägt noch kein Zeichen ihrer späteren Umstülpung an sich, wie denn auch das Hinterende, einfach abgerundet, noch nicht seine künftige Verwandlung zum Stiele verräth. Unsere Larve kann nicht nur verglichen werden mit [101] der Larve eines Borstenwurmes, sondern ist wirklich eine solche. Es geht aber mit diesen eine weitere Gliederung versprechenden, die Hoffnung aber nicht erfüllenden Jugendzuständen gerade so, wie mit den uns bekannt gewordenen Larven der parasitischen Krebse. Es tritt nicht nur keine Fortentwickelung in der erwarteten Richtung, sondern eine Rückbildung ein, die wir in Figur b schon in vollem Gange finden. Hier ist die Festsetzung erfolgt, der Hauttheil des Mittelringes hat sich umgeschlagen, um zu der den Mantel der Weichthiere bildenden Hülle zu werden. Der Kopfschirm ist im Schwinden.

In Figur c ist die Verwandlung in ein äußerlich auch nicht entfernt an einen Gliederwurm erinnerndes Wesen vollzogen. Das Hinterende geht in einen Stiel über, mittels welches das Thier für immer befestigt ist, und die zweiklappige Schale gewährt dem sonst waffenlosen Körper Schutz vor unangenehmen Eindringlingen.

Wir waren, um die dem Auge der zoologischen Laien gänzlich entrückten Muschelwürmer dem Leser näher zu bringen, von der heute am weitesten verbreiteten Familie der Terebrateln ausgegangen. Wir dürfen nun, nachdem wir ihren Bau und die gewiß höchst merkwürdigen Beziehungen zu den unverfälschten Ringelwürmern kennen gelernt, uns etwas näher mit ihrem Vorkommen jetzt und früher und ihren bescheidenen Lebensäußerungen bekannt machen unter Hinzuziehung der Repräsentanten einiger anderen Familien.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 99-102.
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