[143] Wenden wir uns nun zu diesen Schnurwürmern (Nemertinea). Sie haben alle einen auffallend gestreckten, fast nie ganz flachen, sondern nur an der Bauchseite etwas abgeplatteten Körper. Auf dem Vorderrande tragen sie gewöhnlich zwei Haufen von Augen. Am Kopfende, gewöhnlich an der Unterseite, befinden sich zwei Oeffnungen; die eine führt in den Darmkanal, die andere, obere, in eine Höhle, in welcher ein sehr eigenthümlicher Rüssel verborgen liegt. Derselbe kann nämlich mit großer Schnelligkeit und überraschend weit, oft auf die Länge von zwei Drittheilen des ganzen Thieres, hervorgestoßen werden und wird als ein Angriffsorgan benutzt. Bei einer Anzahl von Gattungen (der Abtheilung Anopla) tritt bei der Ausstülpung des Rüssels eine Kalkspitze hervor. Ein sorgsamer Beobachter dieser Thiere, Max Schultze, sah wiederholt, wie das kleine, in der Ostsee vorkommende Tetrastemma obscurum, über 2 Millimeter lang, seinen Rüssel mit Blitzesschnelle bis an das Stilet hervorstieß und damit in die Nähe kommende Thiere, z.B. Flohkrebse, verwundete. »Ist das zu ergreifende Thier angespießt, so wird der Rüssel allmählich wieder zurückgebracht, ohne jedoch seine Beute loszulassen und nun kriecht die ganze Nemertine durch die vermittels des Rüssels gemachte Oeffnung in das verwundete Thier hinein, um dasselbe auszufressen. Von Krustaceen bleibt nur das hohle Chitinskelett zurück. Nicht selten versammeln sich um ein so gespießtes größeres Thier mehrere Nemertinen, welche von verschiedenen Seiten ihren Angriff mit dem Rüssel ausführen und sich dann in die Beute theilen. Sehr geschickt wissen sie zur Einbohrung des Stilets die weichere Bauchseite des Thieres zu wählen.« Wir sehen in der Abbildung (S. 144), wie über dem mittleren, auf einer Art von Handgriff befestigten Stilet jederseits im Inneren der Ovale mehrere dergleichen angelförmige Spitzen unregelmäßig durcheinanderliegen. Mit diesen ist der Schnurwurm, wie ein vorsichtiger Bogenschütze, zur Reserve ausgerüstet. Sie werden nach und nach verbraucht. Es ist jedoch nicht beobachtet, wie sie an die Stelle der Hauptspitze treten.

Wir benutzen dieselbe Abbildung, um noch auf einige wichtige Organisationsverhältnisse aufmerksam zu machen. Die beiden, im Kopfende gelegenen, durch eine Querbrücke verbundenen Anschwellungen mit den beiden von ihnen abgehenden und den Körper in seiner ganzen Länge durchziehenden Strängen sind das Nervensystem, das nach Form und Lage das Urbild des [143] Nervensystems der Gliederwürmer und höheren Gliederthiere ist.


Nemertine Vierauge (Tetrastemma obscurum). Vergrößert.
Nemertine Vierauge (Tetrastemma obscurum). Vergrößert.

Die geschlängelten Organe sind die sogenannten Wassergefäße, welche, mit bestimmten Mündungen beginnend, den Körper der Plattwürmer durchziehen und eine besondere Form der Athmungsorgane vorstellen. Bei den schmarotzenden Plattwürmern scheinen sie dagegen als Absonderungsorgane verwendet zu sein.

Die Gattung Tetrastemma, Bierauge, an welche wir diese Bemerkungen anknüpfen, ist eine der verbreitetsten, deren kleine, zum Theil kaum einige Millimeter lange Arten am liebsten zwischen den Algen sich aufhalten.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 143-144.
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