3. Sippe: Polia

[144] Eine andere häufig vorkommende Art ist die Polia crucigera, so genannt, weil ihr schmutzig grüner, mit weißen Streifen und Ringen schön gezierter Körper am Kopfe eine solche Kreuzzeichnung trägt. Sie erreicht die Länge von 40 Centimeter. Auch sie speit sehr häufig in der Gefangenschaft vor dem Tode ihren langen fadenförmigen Rüssel aus, der bei 15 Centimeter Länge kaum 1 Millimeter dick wird. Man findet sie am häufigsten in Felsstücken, welche schon durch andere bohrende Thiere mit Löchern und Gängen versehen sind, namentlich in Kalkstein und Kreide. Auch zwischen den Stöcken der Rasenkoralle hat sie ein an Windungen reiches Versteck, welcher mit ihr eine Menge anderer Würmer, und vorzüglich auch kleiner Krebse, aufsuchen. Da diese im Mittelmeere sehr gemeine Koralle sich leicht brechen läßt, so ist die in labyrinthischen Verschlingungen in ihr hausende [144] Polia aus ihr ziemlich sicher unversehrt herauszuholen. Schwieriger ist es natürlich, wenn erst schwere Hammerschläge die Höhlungen in den Felsstücken bloßlegen müssen. Aber auch in diesem Falle wird die Jagd oft erleichtert durch die Vorarbeiten der Bohrschwämme, welche, wie wir an seinem Orte sehen werden, den härtesten Kalkfelsen so durchziehen, daß er unter den Fingern zerbröckelt. Das von uns gezeichnete Thier haben wir in Neapel mehrere Tage unzerstückelt und lebend gehabt.

Die größten bisher beobachteten Schnurwürmer kommen an der englischen Küste vor. Die Schilderung eines solchen von dem eifrigen Sammler Davis hat Rymer Jones mitgetheilt. Wir entlehnen sie einem Buche des Letztgenannten, womit der Verfasser schon vor zwanzig Jahren seinen Landsleuten ein »Illustrirtes Thierleben« vorlegte.

»Ich setzte«, sagt Davis, »ein Exemplar dieses wunderbaren Geschöpfes in sein Element in eine möglichst weite Schüssel, um sein Thun und Treiben zu beobachten. Es benahm sich in einiger Hinsicht wie ein Egel, indem es, bis zu einem gewissen Grade amphibiotisch, häufig mit einem Theile des Körpers das Wasser verließ und bis zur Länge von einem bis zwei Fuß sich längs des Randes der Schüssel und des Tisches, worauf diese stand, ausdehnte.


Rüsselende von Tetrastemma obscurum. Vergrößert.
Rüsselende von Tetrastemma obscurum. Vergrößert.

Zu anderen Zeiten, besonders bei Tage, lag es völlig zu einem Hausen zusammengeballt und ruhig, außer wenn an die Schüssel gestoßen wurde. Für solche Beunruhigungen war es sehr empfänglich, was sich in einem Zittern des ganzen Körpers und dem Zurückziehen des gewöhnlich etwas vorgestreckten Kopfendes zeigte. Bei Nacht war der Körper etwas lockerer und weniger verschlungen, so daß er fast die ganze Schüssel bedeckte. Bei der Annäherung einer Leuchte machte das Thier jedoch sogleich Anstalt, sich zusammenzuziehen, so daß ich, obschon ich seine Augen nicht entdecken konnte, mich doch von seiner großen Empfindlichkeit für das Licht überzeugte. Oft gegen Morgen hatte der Körper eine etwas spiralige und pfropfenzieherartige Lage angenommen, und besonders einmal war ich sehr erfreut, ihn in seiner ganzen Länge vollkommen und engschraubig gerollt zu finden. Ich war deshalb über diesen Anblick sehr erfreut, da er mir die Lösung einer mich sehr beschäftigenden Schwierigkeit zu bringen schien, nämlich der Frage, auf welche Weise ein so wundersam weicher, zarter und scheinbar unlenksamer langer Leib sich von einem Orte zum anderen bewegen könnte. Jetzt, als ich diese Stellung sah, hatte ich die Ueberzeugung, daß das Thier sie annimmt, wenn es seinen Platz ändern will. Denn so hat es nicht nur den möglichst kleinen Umfang sich gegeben, sondern es muß auch jeder Theil der Schraube, in geeigneter Weise zur Bewegung veranlaßt, zugleich zum Vorwärtsschieben des ganzen erstaunlich langen Körpers beitragen, ohne Gefahr des Zerbrechens.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 144-145.
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