4. Sippe: Nemertes

[145] Die Länge des Körpers läßt sich am lebenden Nemertes nicht abschätzen, da er bei Berührung sich fortwährend mit unglaublicher Leichtigkeit ausdehnt und zusammenzieht. Ich beobachtete einmal, wie ein Theil des Vorderendes fast drei Fuß über die Schüssel und den Tisch ausgedehnt war und, als das Thier beunruhigt wurde, schnell sich auf ebenso viele Zoll zusammenzog. Mit Berücksichtigung der Dicke im zusammengezogenen und ausgedehnten Zustande muß ich annehmen, daß das Thier ohne Unbequemlichkeit sich fünfundzwanzig- bis dreißigmal so lang ausstrecken kann, als es zu anderen Zeiten ist.

Es wechselt beträchtlich in der Farbe, je nachdem es sich zusammenzieht oder dehnt, von einem dunkeln zu einem röthlichen Bande, dabei ist es jedoch im hellen, besonders im Sonnenlichte, mit einem schönen weichen Purpur überdeckt. Im höchsten Grade der Zusammenziehung erscheint es fast schwarz.

Nachdem ich so das merkwürdige Thier etwa vierzehn Tage beobachtet, unter täglicher Erneuerung des Seewassers, that ich dasselbe in eine Flasche, was ich, beiläufig bemerkt, obgleich [145] sie weithalsig war, mit Bezug auf die Leichtigkeit, mit welcher der Nemertes sich zusammenzieht und streckt, nicht ohne Besorgnis zu Stande brachte. Als es gelungen, goß ich Spiritus auf. Das Thier bewegte sich krampfhaft, zog sich im Verhältnisse zu seiner Länge sehr zusammen und streckte aus dem Kopfende einen acht Zoll langen Rüssel hervor. Auffallenderweise hatte es in der vorhergehenden Zeit unter der verschiedenen ihm zu theil gewordenen Behandlung dieses Instrument bis zum Todeskampfe nicht gezeigt.


Gebänderte Polia (Polia crucigera). Natürliche Größe.
Gebänderte Polia (Polia crucigera). Natürliche Größe.

Da es unmöglich gewesen war, die Länge des Thieres bei seinem Leben abzuschätzen, maß ich dasselbe nach dem Tode, und fand es, den Rüssel ungerechnet, reichliche 22 Fuß lang. Ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß das lebende Thier sich auf das Vierfache der Länge, die es todt zeigte, hätte ausdehnen können.« Wir möchten zu dieser Angabe ein? machen, wenn unser Gewährsmann sich nicht auf die übereinstimmenden Zeugnisse von Fischern beriefe, die dem Wurme eine Länge von 12 und 15 Faden, also bis 30 Meter zugestehen.

In den Aquarien muß man allen diesen größeren Nemertinen Gelegenheit geben, sich um Steine und Tange zu wickeln, wie sie in der Freiheit thun, wenn man etwas mehr als einen unentwirrbaren Knäuel sehen will.

Ein weiteres Eingehen in die vielen bisher bekannt gewordenen Arten müssen wir uns hier um so mehr versagen, als die Lebensweise dieser Thiere eine höchst einförmige ist und von ihrer Entwickelungsgeschichte auch nur erst einzelne Bruchstücke erforscht wurden.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 145-146.
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