1. Sippe: Regenwürmer (Lumbricus)

[86] Eine dritte Abtheilung der Borstenwürmer sind die regenwurmartigen Würmer (Lumbricina), alle diejenigen nämlich, deren Borsten nicht auf Fußstummeln stehen, und welche weder Fühler noch andere, in den vorigen Gruppen so mannigfaltige Anhänge der Ringe besitzen. Den Stamm bilden natürlich die Regenwürmer. Die zoologischen Merkmale dieser Familie sind die zahlreichen, kurzen Segmente, ein kegelförmiger, eine Oberlippe bildender Kopflappen, die Hakenborsten, welche in zwei oder vier Zeilen stehen und sehr wenig aus der Haut hervorragen. Außer jener sogenannten, die Körperspitze bildenden Lippe haben die Regenwürmer keine besonderen Sinneswerkzeuge, namentlich weder Augen noch Ohren, gleichwohl sind sie für Lichtreiz empfänglich. Hören wir, was W. Hoffmeister, welcher die Regenwürmer Deutschlands in einer Monographie geschildert hat, hierüber sagt. »Wer sich mit der Beobachtung der Lebensweise dieser Thiere beschäftigt hat, wird ein mächtiges Hindernis für die Beobachtung in der großen Empfindlichkeit der Würmer gegen Lichtreiz gefunden haben. Eine noch so vorsichtig genäherte Flamme treibt sie schnell in ihre Höhle zurück; doch scheint es immer erst einer gewissen Zeit zu bedürfen, bis der Eindruck percipirt wird. Denn im ersten Momente pflegen sie ihre Bewegungen, trotz der Lichtflamme, [86] fortzusetzen, dann halten sie plötzlich inne, gleichsam um zu lauschen, und dann erst ziehen sie sich mit einem schnellen Rucke in ihre Löcher zurück. Ist der Eindruck einmal aufgenommen, dann kann ein rasches Fortnehmen des Lichtes den eiligen Rückzug nicht aufhalten, scheint ihn im Gegentheile durch den Kontrast noch zu beschleunigen. Nicht der ganze Körper, wie begreiflich, empfindet den Eindruck, sondern nur die zwei ersten Ringe, an denen die vom Schlundringe ausgehenden Nervenbündel liegen. Ein Wurm, der mit dem Kopfe in das Loch eines Nachbars gedrungen oder unter einem Stückchen Holze versteckt war, vertrug die allerstärkste Annäherung der Flamme, verschwand aber sogleich, sobald er den Kopf erhoben hatte. Versucht man bei Sonnenlicht die Mundtheile eines Wurmes zu zeichnen und setzt ihn zu dem Ende in eine Schale mit Wasser, so wird man allezeit finden, daß er stets nach der dem Lichte abgekehrten Seite sich wendet.«

Die meisten Regenwürmer füllen ihren weiten Darmkanal ähnlich wie die Sandwürmer, nehmen jedoch nur darum die großen Portionen humusreicher Erde zu sich, um die darin enthaltenen, in der Zersetzung begriffenen thierischen und vegetabilischen Stoffe zu ihrer Nahrung zu verwenden. Von dem Lumbricus agricola, der größten und stärksten Art Deutschlands, welche in üppigem Boden, bei nicht zu starker Dehnung, nicht selten die Länge von etwa 40 Centimeter erreicht, sagt unser Gewährsmann: »Die humusreiche Erde genügt ihnen nicht allein; sie suchen nach vermoderten Vegetabilien, und wenn sie diese nicht finden, so präpariren sie sich ihren Fraß, indem sie, was ihnen vorkommt, in ihre Löcher hinunterziehen. Jedermann weiß, daß die Strohhalme, Federn, Blätter, Papierstreifen, welche man des Morgens auf den Höfen und in den Gärten in der Erde stecken sieht, als wären sie von Kindern hingepflanzt, während der Nacht von Regenwürmern verschleppt werden. Wenige jedoch werden gesehen haben, wie mit so schwachen Werkzeugen ein Wurm im Stande ist, so große Gegenstände zu überwältigen. Wenn man jedoch den Widerstand erprobt hat, den der Wurm dem entgegensetzt, der ihn aus dem Loche hervorzuziehen versucht, so wird man sich über die Muskelkraft eines nur aus Muskeln und Haut bestehenden Thieres nicht so sehr verwundern. Ein starker Strohhalm wird in der Mitte gefaßt und so scharf angezogen, daß er zusammenknickt, und so ins Loch hinabgezogen; eine breite Hühnerfeder mit der Fahne war ohne Schwierigkeit in ein enges Loch gezerrt; ein an der Spitze gefaßtes grünes Blatt von einer Himbeerstaude wurde abgerissen«.

Die Sinnesthätigkeiten des Regenwurmes haben uns veranlaßt, schon auf seine Lebensweise einzugehen. Wir kehren jedoch nochmals zu seinen anatomischen Eigenschaften zurück, welche vielleicht mancher Leser sich von einem befreundeten Arzt oder Naturforscher an einem frischen Thiere darstellen läßt. Was wir oben über die Blutgefäße gesagt haben, erläutert sich an kleineren, weniger gut genährten Individuen unserer Regenwürmer sehr gut. Mit bloßem Auge sieht man durch die Haut die oben auf dem Darmkanale verlaufende Hauptader und ihren röthlichen Inhalt durchschimmern. Trotz seines rothen Blutes hat der Regenwurm fast zweitausend Jahre im Systeme unter den »blutlosen« Thieren figurirt, bis ihm Linné eine Stelle unter den Thieren »mit weißlichem kalten Blute und einem Herzen mit Kammer, aber ohne Vorkammer«, einräumte. So will alle Erkenntnis, auch die scheinbar nächstliegende, gezeitigt sein. Jenem Rückengefäße korrespondirt am Bauche ein zweites Hauptgefäß, mit dem ersten durch eine Reihe von Querschlingen verbunden. Eine Menge kleiner Adern kann man an einem schnell in starkem Weingeiste getödteten und geöffneten großen Regenwurme aus den Stammgefäßen ihren Ursprung nehmen sehen, um in feinsten Vertheilungen den Körper zu durchtränken und zu ernähren. Als Athmungsorgane treten die Hautbedeckungen ein. Die Regenwürmer und Verwandte sind Zwitter. Nicht alle Gattungen der Lumbricina besitzen den drüsigen Gürtel von weißlicher oder gelblicher Farbe, welcher etwa mit dem fünfundzwanzigsten bis neunundzwanzigsten Ringe anfängt und sich vier bis zehn Glieder weit erstreckt. Er dient zum gegenseitigen Festhalten während der Begattung.

Der gemeine Regenwurm verlebt den Winter, einzeln oder mit seinesgleichen zu langem Schlafe zusammengeballt, sechs bis acht Fuß unter der Erde. Die Frühlingswärme weckt auch [87] ihn und lockt ihn wieder empor. Er ist des Tages Freund nicht, aber in der Früh- und Abenddämmerung und bis tief in die Nacht hinein, besonders nach warmem, nicht heftigem Regen, verläßt er seinen Schlupfwinkel, theils um seiner Nahrung nachzugehen, theils um mit einem der Freunde und Nachbarn ein intimes Bündnis zu schließen.

Bei dieser Friedfertigkeit und Bescheidenheit lauert tausendfacher Tod auf die armen Regenwürmer. Unterdrückten kann man sie vergleichen, denen man selbst ihre nächtlichen, geräuschlosen Zusammenkünfte nicht gönnt. »Der Regenwurm«, sagt sein Biograph, »gehört zu den Thieren, die den meisten Verfolgungen ausgesetzt sind. Der Mensch vertilgt sie, weil er sie beschuldigt, die jungen Pflanzen unter die Erde zu ziehen. Unter den Vierfüßern sind besonders die Maulwürfe, Spitzmäuse und Igel auf sie angewiesen. Zahllos ist das Heer der Vögel, das auf ihre Vertilgung bedacht ist, da nicht bloß Raub-, Sumpf- und Schwimmvögel, sondern selbst Körnerfresser sie für raren, leckeren Fraß halten. Die Kröten, Salamander und Tritonen lauern ihnen des Nachts auf, und die Fische stellen den Flußufer- und Seeschlammbewohnern nach.


Phreoryctes Menkeanus. Natürliche Größe.
Phreoryctes Menkeanus. Natürliche Größe.

Noch größer ist die Zahl der niederen Thiere, die auf sie angewiesen sind. Die größeren Laufkäfer findet man beständig des Nachts mit der Vertilgung dieser so wehrlosen Thiere beschäftigt, die ihnen und noch mehr ihren Larven eine leichte Beute werden. Ihre erbittertsten Feinde scheinen aber die größeren Arten der Tausendfüßer zu sein. Diesen zu entgehen, sieht man sie oft am hellen Tage aus ihren Löchern entfliehen, von ihrem Feinde gefolgt.«

Die Familie der Lumbricinen zerfällt nach der Beschaffenheit des Kopflappens und der Stellung der Borsten in eine Reihe von Gattungen, unter denen Lumbricus allein über zwanzig Arten zählt. Jedoch nur zwei bis drei Arten, wie Lumbricus anatomicus und L. agricola sind in Deutschland allgemein verbreitet. L. foetidus, die am schönsten gefärbte Art, mit gelb und roth bandirtem Leibe, liebt die Sandgegenden und findet sich besonders häufig in der Mark unter Lauberde. Der braunrothe, heller bandirte L. puter bewegt sich sehr geschwind unter und im morschen und faulen Holze, der grünliche L. chloroticus ist bis jetzt nur am Harze im Grunde stehender Gewässer, auf thonigen Angern und an den sandigen Ufern von Bächen und Flüssen gesehen worden.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 86-88.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon