3. Sippe: Amphicora

[81] Zu den merkwürdigsten Thieren, nicht nur speciell den Würmern, gehören die Arten der Gattung Amphicora, welche an unseren Küsten auch wieder in ganz unglaublichen Mengen vorkommen, freilich nur dem auf sie fahndenden Zoologen bemerkbar, indem sie nur einige Linien lang sind und in dem dichtesten Gewirr der Wasserpflanzen, besonders der sich verfilzenden Algen, leben. Hat man einen Büschel dieser Pflanzen mit dem anhaftenden Sande und Schlamme ruhig eine bis zwei Stunden in einem flachen Gefäße stehen lassen, so kommen, durch das Athembedürfnis getrieben, eine Menge von kleinen Krebschen und reizenden Würmchen hervor, die sich fast alle am Rande des Tellers ansammeln, um dort des Sauerstoffes der Luft theilhaftig zu werden. Man kann mit ziemlicher Sicherheit darauf rechnen, daß auch die Amphicora darunter ist, auf deren specifische Unterschiede hier nichts ankommt. Sie hat, was sonst die Serpulaceen nicht thun, ihre häutige Röhre verlassen, wie sie auch im normalen Zustande pflegt, um sich nach Futter und Gesellschaft umzusehen. Wir führten an, daß es mit dem Gesichte der Kopfkiemer im allgemeinen schlecht stehe; allein davon macht Amphicora die überraschende Ausnahme, daß sie nicht nur vorn, sondern auch hinten Augen besitzt. Als ich 1848 dieses von Ehrenberg bei Helgoland entdeckte Thier bei Thorshaven auf den Färöern anhaltend beobachtete, mußte ich das nicht Kiemen tragende Ende für den Kopf halten. Es marschirt nämlich, wie ich mich nachher noch oft und erst im Herbste 1867 bei Cette wieder überzeugt habe, am liebsten mit diesem Ende voraus, die Kiemen wie einen tüchtigen Besen nachschleppend. Häufig aber wechselt es die Richtung, und es ist in dem sonderbaren Vortheile, nicht wenden zu brauchen, da auch gleich hinter den Kiemen ein Paar ihm den Weg zeigende Augen (a) stehen und die Fußstummel und Borsten ihren Dienst vor- und rückwärts thun. Man hat mich belehrt, daß ich den Schwanz für den Kopf genommen, wie aus der Beschaffenheit des Darmkanals hervorgehe. Auch spricht die Lage der beiden als Gehörwerkzeuge zu deutenden Bläschen (g) dafür. Nun, wir wollen es zugestehen, können aber dem Liebhaber mikroskopischer Gemüths- und Augenergötzung bei einem Aufenthalte im Seebade die lebhafte Amphicora nicht genug anempfehlen.

Wir haben jetzt dem Leser eine im Verhältnisse zur Gesammtmenge zwar ausnehmend geringe, aber doch vielleicht zu dem Zwecke genügende Anzahl von Formen der im Meere lebenden Rückenkiemer und Kopfkiemer vorgeführt, um es wagen zu dürfen, ihre Lebensweise in einem Gesammtbilde zu schildern. Es mag erlaubt sein, zunächst wiederum dem ausgezeichneten Kenner Quatrefages zu folgen.

Eine große Anzahl dieser Ringelwürmer ist im Stande, von einer Flutzeit bis zur anderen im vom Wasser entblößten Schlamme oder Sande oder auch in den freiliegenden Röhren zuzubringen, kein einziger aber lebt oberhalb des Flutstriches oder etwa in jener Zone, welche beim Flutstande von den Wellen bespült wird. Unter die am höchsten wohnenden gehören die Aphroditen, Nereïden und Sandwürmer. Erst in den unteren Etagen der Ebbezone trifft man einige Arten der Glyceren und Clymenien. Mit Ausnahme einer Anzahl von Arten, welche, wie die Serpulen und Hermellen, feste Röhren bewohnen, bohren sich die meisten Ringelwürmer in den Boden und halten sich im Sande, Schlamme, besonders aber in dem eine Beimischung von Schlamm enthaltenden Sande, auf, welchen die Flut zweimal des Tages bedeckt und entblößt. Dies gilt jedoch nur von denjenigen Gestaden, an denen die Fluthöhe eine beträchtliche ist. Im Adriatischen Meere, wo sie kaum einen bis zwei Fuß beträgt, bleiben die meisten Gliederwürmer immer unter [81] dem Wasserspiegel. Jedenfalls wühlen in dieser oberen Zone die meisten, und zwar ist ihnen der Boden am liebsten, welcher durch eine richtige Mischung von Sand und Schlamm eine gewisse Festigkeit erlangt hat, welche jedoch den Minirarbeiten keine Schwierigkeiten entgegensetzt. In schönster Weise vereinigen sich diese Bedingungen in den untermeerischen Wiesen von Seegras (Zostera); sie geben eine reiche Ausbeute, wenn man sie geradezu abgräbt. Indem von ihnen die pflanzenfressenden Arten angelockt werden, folgen letzteren die fleischfressenden nach. Sehr beliebte Schlupfwinkel sind Felsenritzen, und eine Menge der zartesten, weiter unten zu erwähnenden Syllideen und der kleinen Nereïden bergen sich mit den Amphicorinen zwischen Tangen und Corallinen. Ueberall, wo diese Pflanzen im stärksten Wellenschlage sich angesiedelt haben, ist man sicher, jene kleinen Ringelwürmer anzutreffen. Frei im Wasser, in unmittelbarer Nähe der Küste, halten sich, wie leicht begreiflich, keine Arten auf. Das hohe Meer sagt aber einer Anzahl zu, der durchsichtigen Torrea vitrea, vor allen den Heteronereïden, deren breite Ruder der hinteren Leibeshälfte sie zu guten Schwimmern stempeln.

Aber auch diese pelagischen Arten bleiben nicht immer auf hohem Meere. Wenigstens beobachtete Quatrefages, daß mehrere für gewöhnlich fern vom Strande lebende Arten von Heteronereis zur Zeit der Fortpflanzung das Gestade suchten und nach Art der übrigen Strandbewohner sich einrichteten. Umgekehrt scheinen diejenigen Ringelwürmer, welche in der Regel am Strande angetroffen werden, während der schlechten Jahreszeit und wenn sich viel Regenwasser mit der oberen Wasserschicht mischt, sich tiefer hinab und weiter hinauszuziehen. Auf viele wirkt das süße Wasser wie Gift, manche sterben augenblicklich darin, manche nach einigen konvulsivischen Krümmungen.

Für den Beobachter und Sammler hat das Bauen und Bilden der Gänge und Röhren großes Interesse. Einzelne Züge dieser Verrichtungen haben wir oben schon angeführt. Die Gänge im Sande und Schlamme werden mit dem Rüssel gebohrt. Durch Zusammenziehung des Leibes preßt der Wurm die blutartige Leibesflüssigkeit nach vorn und stößt damit den Rüssel gewaltsam hervor. Derselbe dringt so lang, wie er ist, in den Boden, und da er in der Regel beim Hervorstrecken dicker wird als das Thier, rückt dieses beim Zurückziehen leicht vor. Dieses Manöver kann sehr schnell wiederholt werden, und so gräbt sich ein mehrere Centimeter langer Wurm binnen Sekunden und Minuten ein. Bei der Mehrzahl der auf solche Weise minirenden Arten wird gar nicht für den Bestand der Röhren gesorgt, einige Nereïden und andere kleiden dieselben aber mit einem dünnen, vom Körper abgesonderten Ueberzuge aus, der im wesentlichen sich wie die Röhren der Sabellen und Chätopteren verhält. So verschiedenartig alle diese wahren Röhren, von den schleimigen und gallertigen einzelner Sabellen bis zu den äußerst harten der Serpulen, sind, in allen Fällen entstehen sie durch Ausschwitzungen der Thiere. Nie aber besteht eine solche innige Verbindung zwischen dem Thiere und der Röhre, wie etwa zwischen dem Schneckengehäuse und der Schnecke oder der Muschelschale und der Muschel, welche letzteren mit den von ihnen abgesonderten festen Wohnungen verwachsen sind.

Die auf vielen direkten Beobachtungen beruhende Eintheilung der bisher betrachteten Ringelwürmer in Fleischfresser (Rapaces) und Schlammfresser (Limivora) scheint, sobald man damit zugleich die Abtheilungen der Rückenkiemer und der Kopfkiemer bezeichnen will, doch nicht allgemein zu passen. Es gibt vielmehr auch pflanzenfressende Rückenkiemer und fleischfressende Kopfkiemer, wenn auch letztere sich mit kleinerer, in das Bereich ihrer Mundwerkzeuge kommender Beute begnügen. Ihr Nutzen für den Menschen beschränkt sich auf die Verwendung als Köder. Den einen oder den anderen zu verspeisen, dazu haben es selbst die sonst nicht heikligen Chinesen nicht gebracht, nur die Fidschi-und Samoa-Insulaner sollen einen an ihren Küsten häufigen Ringelwurm auf ihrem Küchenzettel haben.

Was man von ihrer Lebensweise aus der Beobachtung unserer Thiere im freien Zustande erfahren, läßt sich aus ihrem Benehmen in der Gefangenschaft in größeren und kleineren Aquarien [82] ergänzen. Man kann die verschiedenartigsten Species in engen Gefäßen beisammen halten, ohne daß sie einander anfallen und sich gegenseitig aufzehren. Die meisten empfinden offenbar das helle Tageslicht, besonders die direkte Sonne, sehr unangenehm. Die frei lebenden suchen emsig nach einem Verstecke, die Röhrenwürmer halten sich so lange wie möglich in ihrer Behausung zurückgezogen. Nur erst, wenn in den kleineren Gefäßen, in denen man sie für das Studium aufbewahrt, eine dem Geruchsorgane sehr bemerkliche Zersetzung beginnt, suchen sie, wie oben bemerkt, um jeden Preis in behaglichere Umgebung zu flüchten, und dann verlassen selbst solche Röhrenwürmer, wie Serpula, ihr Haus, welche an ihrem natürlichen Aufenthaltsorte nie daran denken. Ihr unruhiges, scheues Benehmen im direkten Lichte würde zwar allein nicht ausreichen, die Mehrzahl der Seeringelwürmer für nächtliche Thiere zu halten, allein die ganze Wahl ihres Aufenthaltes macht dies wahrscheinlich.

Durch die neueren Tiefseeforschungen sind wir in Stand gesetzt, das eben gegebene Bild zu vervollständigen und zu verallgemeinern. Besonders bemerkenswerth sind die Resultate, welche Ehlers aus den ihm von der »Porcupine-Expedition« zur Bearbeitung übergebenen Würmern zog. Es wurde durch die Expedition festgestellt, daß noch in Tiefen von zweitausendvierhundertfünfunddreißig Faden (viertausenddreihundertundachtzehn Meter) Borstenwürmer leben, und daß nur die ausgesprochen strandliebenden Familien der Telethusen und Hermelliden keine Mitglieder in größere Tiefe als dreihundert Faden senden. Eine einzige Art, Syllis abyssicola, wurde nur in einer Tiefe von mehr als tausend Faden gefunden; die meisten, welche die Linie von tausend und die von fünf hundert Faden nach unten überschreiten, kommen auch oberhalb der Hundertfadenlinie vor, und selbst von jenen, welche bis jetzt nur als Tiefseebewohner erschienen, muß es zweifelhaft bleiben, ob sie nicht gelegentlich noch in seichterem Wasser gefunden werden. Nachdem schon Möbius die Seethiere als eurytherme und stenotherme Formen unterschieden hat, das heißt solche, welche ihre Existenzbedingungen in weiten oder in engen Temperaturgrenzen finden, hat Ehlers dies Verhältnis weiter verfolgt und an den Bewohnern der europäischen Küsten vom Mittelmeere bis in den arktischen Kreis hinein nachgewiesen, daß die Würmer mit großer horizontaler Verbreitung, also diejenigen, welche unter sehr verschiedenen Temperaturen ausdauern, zugleich die größte vertikale Verbreitung besitzen. »Als das charakteristischste Beispiel«, sagt Ehlers, »erwähne ich die Terebellides stroemii; das Thier findet sich, neben anderen ein Genosse des eurythermen Krebses, Nephrops norvegicus (siehe S. 26), im Adriatischen Meere, wo es Grube am Strande der Insel Lussin, ich es in der Strandregion bei Fiume gefunden habe, in einer erwärmten und erheblichen Temperaturschwankungen ausgesetzten Region, während es anderseits an den arktischen Küsten, und zwar gleichfalls in der Strandregion, vorkommt. Demgemäß findet es sich nun auch aus der Porcupine-Sammlung aus einer Tiefe von vierhundertsechsundzwanzig Faden mit 8,85 Grad Celsius, und aus einer Tiefe von eintausendzweihundertundfunfzehn Faden mit 2,80 Grad Celsius.

Ohne daß wir den Leser mit Namen beschweren, heben wir noch die Thatsache hervor, daß manche arktische Formen als stenotherm in südlichen Tiefen vorkommen, und dies veranlaßt die Frage, ob wir uns solche Orte als isolirte Punkte vorzustellen haben, oder ob nicht auch die Vorstellung berechtigt ist, daß diese arktischen Formen durch ausgedehnte kalte Wassermassen der Tiefsee bei ihrer südlich gehenden Verbreitung doch gleichsam einen Zusammenhang mit den Verbreitungsarten an den arktischen Küsten besitzen. Man hat eben dieses Vorkommen arktischer Thiere in der Tiefsee wohl vergleichen wollen mit dem isolirten Vorkommen gleicher alpinen Arten auf den Gipfeln unserer Hochgebirge, die durch Thalgründe und Ebenen geschieden sind, welche von diesen Thieren nicht durchschritten werden. Der Vergleich wäre nur zulässig, wenn wir zu der Annahme berechtigt wären, daß die südlich liegenden Fundorte der Tiefseen, an denen wir arktische Formen treffen, ringsum von Wassermassen solcher Temperaturen umgeben seien, in welchen die betreffenden arktischen Formen nicht leben könnten. Eine derartige Annahme scheint mir aber durch nichts gestützt zu werden; im Gegentheile, wie wir mit der zwischen den Färöer-und Shetland-Inseln von [83] Norden hereinbrechenden kalten Tiefseeströmung hier arktische Thiere auftreten sehen, so können wir uns durch die weite Verbreitung kalter Wassermassen in den Tiefen des Meeres eine weite Ausbreitung der arktischen Fauna in der Tiefe des Meeres vermittelt vorstellen.

Nur nach einer Seite hin ließe sich der angeführte Vergleich wohl festhalten. Wenn wir uns jetzt meistens die isolirte Verbreitung der alpinen Formen durch den Temperaturwechsel erklären, welcher mit dem Ablaufe der Eiszeit eintrat und die jetzigen alpinen Formen aus den gletscherfrei werdenden Thälern in ihre jetzigen Wohnorte einzurücken veranlaßte, so könnte man für die gegenwärtige Verbreitung der arktischen Tiefseeformen die Vermuthung aussprechen, daß diese Thiere in einer früheren Zeit wohl auch an den europäischen Küsten der Nordsee verbreitet gewesen seien, von diesen aber mit dem Hereinbrechen einer warmen Oberflächenströmung des Golfstromes verdrängt und nun auf jene Orte beschränkt seien, in denen das Meer die niederen Temperaturgrade bewahrt habe: das sind außer dem arktischen Kreise ganz allgemein die von dem warmen Oberflächenstrome nicht berührten Tiefgründe des Meeres. Und hier möchte ich nun noch auf das Vorkommen der Antinoe Sarsii hinweisen, einer an den arktischen Küsten häufigen Form, die auf eintausendzweihundertundfunfzehn Faden Tiefe bei +2,80 Grad Celsius vor der irländischen Küste, von M. Sars in einer Tiefe von dreihundert Faden vor der norwegischen Küste gefunden wurde; ich hebe aber gerade diesen Wurm um so mehr hervor, als er zu denjenigen Thieren gehört, welche sich im Baltischen Meere befinden und die von Lovén als arktische Formen bezeichnet wurden, welche in der Ostsee bei einer Abschließung derselben vom Eismeere sich erhielten.«

Während eine große Anzahl Borstenwürmer von weiter horizontaler Verbreitung im hohen Norden ihre höchste Größenentwickelung erreichen, eine auch für andere wirbellose Thiere geltende Erscheinung, und während man dasselbe auch von den Borstenwürmern aus großen Tiefen erwarten sollte, hat Ehlers gerade das Gegentheil festgestellt: alle aus der Tiefsee stammenden Würmer sind klein im Vergleiche zu den Größen, unter denen dieselben Formen im arktischen Kreise gefunden werden. Die Ursachen sind unklar; doch darf man wohl mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die jedenfalls mangelhaften Ernährungsverhältnisse an dem Zurückbleiben schuld sind. Denn überhaupt, wenn man das Leben der Anneliden in den oberen Regionen überblickt, können wir uns des Gedankens nicht erwehren, daß die Mehrzahl der in den dunklen Abgründen sich hinfristenden Arten unfreiwillig dort existirt.

Es dürfte nämlich viel schwieriger für die tiefseebewohnenden Borstenwürmer sein, aufzusteigen und seichtere Küsten zu gewinnen, als umgekehrt. Unser Kollege Ehlers ist geneigt, einen Verkehr in beiden Richtungen anzunehmen, da, wo er eine Erklärung für das auffällige, von uns schon bei den Tiefseekrebsen erwähnte Faktum sucht, daß die dunkle Meerestiefe jene Borstenwürmer weder farblos noch blind macht. Nur eine einzige Art, die blinde Syllis abyssicola, führt uns ein Beispiel vor, »daß in den lichtleeren Meerestiefen blinde Borstenwürmer leben, deren nächstverwandte Formen stets Augen besitzen«.

Mit den oben angegebenen Tiefen ist aber das Vorkommen hoch organisirter Borstenwürmer keineswegs erschöpft. Eine der Gattung Myriochele angehörige Annelide wurde nebst ihren Schlammröhren von der Challenger-Expedition in der Südsee aus der enormen Tiefe von fast sechstausendvierhundert Meter gedredscht.

Wir haben oben das Leuchten eines Borstenwurmes, des Chaetopterus, hervorgehoben. Fügen wir hier zusammenfassend noch hinzu, daß noch andere Mitglieder dieser Klasse unter gewissen Umständen Licht ausstrahlen oder einen leuchtenden Stoff absondern. Wie beim Chaetopterus geht das Licht verschiedener Arten von Polycirrus und Odontosyllis, von Schleimhautzellen aus, wogegen bei Polynoe eigenthümliche, in den Rückenschuppen liegende Nervenendigungen der Sitz der Lichterscheinung sind, bei Syllis aber, nach älteren Beobachtungen von Quatrefages, die Muskeln.

[84] Die Natur- und Lebensgeschichte der meisten niederen Thiere, so auch die der borstentragenden Seewürmer, bleibt ohne Kenntnis ihrer Entwickelung eine sehr unvollkommene. Bei den See-Borstenwürmern sind die Geschlechter getrennt und in den meisten beobachteten Fällen wird das gesammte Ei mit der Eihaut allseitig zum Jungen umgewandelt. Entweder die ganze Oberfläche oder eine Zone des Eies bedeckt sich mit Flimmerhärchen, und nun beginnt das kleine Wesen als Larve ein selbständiges Dasein. Ehe noch irgend eine Scheidung der inneren Organe wahrzunehmen ist, fangen die Larven an, mit Hülfe der Wimpern sich zu drehen und zu bewegen, häufig, wie z.B. bei Arenicola, in einen zugleich mit den Eiern abgesetzten Gallertklumpen eingeschlossen. Indem die Larve sich streckt, bleibt es entweder bei der einen Wimpernzone oder es treten mehrere auf. Auf der entsprechenden, abgebildeten Entwickelungsstufe von Terebella nebulosa ist zu der anfänglichen, breiten Zone noch ein zweiter, schmälerer Wimperreifen am Hinterende gekommen (Fig. 1, 2), und sieht man auf dieser Stufe schon den Beginn der Gliederung des Körpers.


Entwickelung der Borstenwürmer. Alle Figuren vergrößert.
Entwickelung der Borstenwürmer. Alle Figuren vergrößert.

Indem diese fortschreitet, Stummeln aus der Haut hervortreten und in ihnen eingepflanzt die Borstenbündel sich zeigen, indem zugleich die inneren Organe, der Darmkanal, auch die Augen sich ausbilden (Fig. 3), schwinden die Wimperreifen mehr und mehr. Die Verwandlung besteht also auch hier darin, daß die für das Larvenleben bestimmten Interimsorgane nach und nach den definitiven Platz machen. Wohl zu bemerken ist, daß auch hier die sich später festsetzenden und mit Röhren umgebenden Arten in der Jugend in gewisser Weise höher organisirt sind als im Alter. Die Larven der Terebellen und anderer haben Augen und führen die Lebensweise der im allgemeinen höher stehenden Rückenkiemer. Ihr weiteres Wachsthum ist also zugleich mit einer rückschreitenden Verwandlung verbunden.

Wir wenden nun den Blick auf Figur 4 der Abbildung, welche uns in die merkwürdige ungeschlechtliche Fortpflanzung der Syllideen einführt. Wir sehen eine Mutter mit den ihr anhängenden sechs hoffnungsvollen Knospen, Knospen in des Wortes eigenster Bedeutung. Das [85] Thier bildet die Gattung Myrianida und gehört in die Familie der kleinen, beweglichen Syllideen. Die erste Knospe, welche an dem Hinterende der Mutter hervorsproßte, nimmt jetzt in der Kette den hintersten Platz ein, sie ist mehr und mehr gereift, während zwischen ihr und der Erzeugerin neue Knospen sich einschoben. In anderen Fällen, bei Syllis, ist mit der Knospenbildung zugleich eine Quertheilung des die Knospen hervorbringenden Vorderthieres verbunden; die letzten Ringe gehen, sich verlängernd und sich umwandelnd, in die Knospentochter über, und zwischen ihnen und der Stelle, an welcher sich die Knospe vom mütterlichen Boden trennen soll, wird als völlige Neubildung der Kopf der Knospe eingeschoben. Bei diesem Aufgehen ganzer Glieder des Mutterthieres in die Tochter kommt es auch vor, daß sie schon mit Eiern gefüllt sind, obwohl dieser Fall, daß dasselbe Thier auf geschlechtlichem Wege Eier producirt und zu gleicher Zeit Knospen treibt, der seltenere zu sein scheint. Die Regel, welche auch mit dem übereinstimmt, was ähnliche Vorgänge in anderen Thierklassen zeigen, ist vielmehr, daß das Vorderthier geschlechtslos ist, die Knospen dagegen Männchen oder Weibchen werden. Am reinsten und lehrreichsten ist dieser Vorgang bei der Gattung Autolytus. Der Kopf des geschlechtslosen Vorderthieres von Autolytus cornutus ist Figur 7; er unterscheidet sich durch Stellung, Form und Länge der Fühler und Fühlfäden von dem der männlichen Knospen (Fig. 5), und dieser wieder von dem der weiblichen (Fig. 6). Männchen und Weibchen entstehen also nur auf dem Wege der Knospung, während ihre ungeschlechtlichen Erzeugerinnen ihr Dasein nur den Eiern der geschlechtlichen Generation verdanken. Wir haben hier ein reines Beispiel des in der niederen Thierwelt viel verbreiteten sogenannten Generationswechsels. Derselbe ist also eine eigenthümliche Art der Fortpflanzung und Vermehrung, bei welcher das aus dem Eie sich entwickelnde Individuum nie die Gestalt und den Werth, das heißt die physiologische Bedeutung des Geschlechtsthieres erhält, sondern auf ungeschlechtlichem Wege, durch Theilung, Knospenbildung oder auch innere Keimbildung sich vermehrt und erst durch diese seine Sprossen zur geschlechtlichen Generation zurückkehrt. Die Art wird also, falls die Geschlechter getrennt sind, nicht nur aus den verschieden geformten, mit besonderen Kennzeichen versehenen beiden Geschlechtern, sondern auch aus der ebenfalls eigenthümlich gebildeten geschlechtslosen Zwischengeneration zusammengesetzt. So einfach und leicht aufzufassen, wie bei Autolytus, ist der Generationswechsel nur in seltenen Fällen. Schon hier sind jedoch die beiden wechselnden Generationen so verschieden, daß man, ehe man ihre Zusammengehörigkeit entdeckte, sie als verschiedene Gattungen beschrieb, das geschlechtslose Individuum als Autolytus, das Männchen als Polybostrichus, das Weibchen als Sacconereis.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 81-86.
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