Die Rundwürmer

[117] Der vornehmlichste Zweck dieses Werkes, das »Leben« der Thiere zu schildern, kann bei den höheren Klassen mehr oder weniger erreicht werden, ohne daß die mit den äußeren Lebensverhältnissen wechselnden Veränderungen der inneren Organisation berücksichtigt werden. Gleichwohl ist bei allen charakteristischen Gruppen, selbst der Säugethiere, dasjenige Maß anatomischer Einzelheiten vorgeführt worden, welches eine Folie für die Lebensäußerungen abgeben konnte. Selbstverständlich mußten Zähne, Bekleidung, Gehwerkzeuge, kurz alle jene unmittelbar in die Augen fallenden Eigenthümlichkeiten ganz genau beschrieben werden, nach welchen auch das Auge des naturwissenschaftlichen Laien unwillkürlich seine Unterscheidungen und Vergleiche macht.

Je weiter wir in die niedere Thierwelt kommen, desto mehr hört jener nicht ungerechtfertigte Unterschied zwischen äußeren und inneren Kennzeichen, insofern sie für die Schilderung des »Lebens« nothwendig sind, auf. Wo vorwaltend das Mikroskop zur wissenschaftlichen Feststellung hat angewendet werden müssen, kann man fast behaupten, daß »keine Kleider, keine Falten« den Leib umgeben. Wenigstens reichen sie in keiner Weise aus für das Signalement. Wir werden bei der nunmehr zu behandelnden Klasse zu dieser Nothwendigkeit, das Innere aufzuschließen, um den äußeren Wechsel zu verstehen, mehr noch als bisher gedrängt sein. Wir werden die verschlungenen und oft nicht sehr ästhetischen Pfade der Entwickelungsgeschichte wandeln müssen, da das »Leben« sehr vieler Rundwürmer in der allmählichen körperlichen Vervollkommnung besteht, welche mit dem Wechsel des Aufenthaltsortes verknüpft ist. Wir werden sie aus dem Fleische eines Thieres, ihres Wirtes, in den Darm eines anderen oder des Menschen, aus dem Wasser in den Leib eines Thieres, aus dem feuchten Boden in eine Froschlunge, aus der Leibeshöhle einer Raupe oder Heuschrecke in die Erde zu verfolgen haben. Ist die natürliche Scheu vor diesen natürlichen Dingen aber einmal überwunden, so sind gerade diese Verwandlungen und Wanderungen der Eingeweidewürmer in hohem Grade fesselnd und lehrreich. Auch zeigt es sich, wie die Wissenschaft im Stande gewesen, durch mühsame Experimente und zeitraubende Nachforschungen fast alle jene Parasiten des menschlichen Leibes zu entlarven und ihr Herkommen aufzuklären, von denen einige zu unseren lebensgefährlichsten Feinden gehören. In der Schilderung dieser und der verwandten Würmer haben wir vorzugsweise an das ausgezeichnete Werk von Rudolf Leuckart: »Die menschlichen Parasiten«, sowie an ein ähnliches von Schneider uns anzuschließen. Das Gebiet ist von ihnen in einer Weise nach allen Richtungen ausgebaut, daß, um mich klassischer Worte zu bedienen, »daß mir zu thun fast nichts mehr übrig bleibt«, als sie wörtlich zu citiren, oder ihre Darstellung zu umschreiben.

[117] Die Rundwürmer, auch Fadenwürmer genannt, Nematodes – man mag seine Vorstellungen an einen Spulwurm anknüpfen –, haben einen faden- oder schlauchförmigen Körper, der immer ungegliedert und ohne Füße ist. Die Haut ist derb und prall, der unmittelbar mit ihr verbundene Muskelschlauch oft sehr entwickelt. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Geschlechter getrennt.

Wir wollen einmal, um der Einförmigkeit schulmäßiger Darstellung aus dem Wege zu gehen, und weil es uns für das Verständnis der Lebensverhältnisse gerade dieser Würmer sehr passend scheint, vom Eie anfangen und in demselben vor den Augen der Leser einen Fadenwurm entstehen lassen. Wir nehmen dazu eines jener spulwurmartigen Thiere, welches mit fast absoluter Regelmäßigkeit in dem Märtyrer der Wissenschaft, dem Frosche, angetroffen wird, Nematoxys1.

Das Ei ist von ellipsoidischer Form.


Entwickelung eines Nematoxys. 400mal vergrößert.
Entwickelung eines Nematoxys. 400mal vergrößert.

Der in ihm enthaltene Embryo hat auf eine kurze Zeit einen lichten Pol, ist aber bald darauf von einer gleichförmigen, aus größeren Zellen bestehenden Keimschicht allseitig umgeben. Dabei zeigt er schon eine Knickung, den Beginn einer immer weiter schreitenden Biegung und Streckung, wobei das künftige Schwanzende sich auf den Vorderleib umlegt. Indem jene größeren Zellen der anfänglichen Keimschicht zurücktreten, kleineren Zellen und einer krümlichen Substanz Platz machen, scheidet sich an der Körperoberfläche des sich [118] immer mehr streckenden, krümmenden und einrollenden Embryos eine völlig durchsichtige zarte Haut aus, eigentlich das erste bleibende Organ. Bald bemerkt man in dem abgestutzten Vor derrande eine Vertiefung, welche zur Mundöffnung wird, und in dem zum Auskriechen reifen Würmchen ist außer der Haut und dem durchsichtigen Hautmuskelschlauche nichts weiter fertig, als der Darmkanal. Er beginnt mit der von drei lippenartigen Vorsprüngen umgebenen Mundöffnung, auf diese folgt ein gerader, gestreifter Schlund, dann der durch seine körnigen Wandungen hervortretende Magendarm, welcher mit einem kurzen Endrohre vor der Schwanzspitze an der Bauchseite mündet.

In diesem Zustande werden die meisten Fadenwürmer geboren, und wir haben nun ihre weitere Ausbildung, welche sie theils an einem und demselben Aufenthalte, meist jedoch unter mehrfachem Wechsel der äußeren Verhältnisse, durchmachen, in ihrer Allgemeinheit ins Auge zu fassen. Die Veränderungen, welche der Darmkanal erleidet, beziehen sich vorzüglich auf die Umgebungen des Mundes und den Schlund; allerlei Lippen, Zähnchen, Leisten, kropfartige Anschwellungen der Schlundröhre können sich bilden und geben charakteristische Merkmale für die einzelnen Familien. Nie entwickelt sich ein Gefäßsystem, das farblose Blut ist frei in der Leibeshöhle. Ein für die ganze Abtheilung sehr wichtiges Organ ist aber in den sogenannten Seitenlinien enthalten, ein Paar Stränge von Zellen, die wenigstens in der Nähe des Vorderendes in zwei Kanälen sich fortsetzen und unter dem Schlunde eine gemeinsame Mündung haben. Es ist ein Absonderungsorgan, etwa der Niere zu vergleichen. Die Geschlechter sind meist an äußeren Zeichen kenntlich. Die Männchen sind gewöhnlich kleiner, haben auch verschiedene Anhangsorgane am Hinterleibe. Die meisten Nematoden legen Eier. Bei nicht wenigen geht aber noch in den Eileitern die Entwickelung der Embryonen so weit vor sich, daß das Auskriechen mit dem Eierlegen zusammenfällt, die Jungen also, wie man sagt, »lebendig geboren werden«. Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesem Vorgange und dem Gelegtwerden der Eier findet so selten statt, daß bei einer und derselben Species beides abwechselnd vorkommen kann. Auch diese Verhältnisse gehören ganz eigentlich in das »Leben« der Nematoden, wie wir z.B. sehen werden, daß einzelne Nematodenmütter schließlich zu einem bloß leblosen Sacke werden, in welchem ihre Sprößlinge eine gewisse Periode ihrer Jugend zubringen.

Fußnoten

1 Es kommt hier auf die Art nichts an. Ich habe leider die Notiz zu den vor Jahren gemachten Beobachtungen und Zeichnungen verloren.


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 117-119.
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