Gemeiner Spulwurm (Ascaris lumbricoides)

[125] Den Mittelpunkt einer folgenden Familie bildet der Spulwurm. Statt des lebensgroßen Porträts eines solchen, mit welchem wir kaum irgend jemandem eine Freude machen würden, beschränken wir uns auf die Abbildung (S. 126) des für die Gattung Ascaris charakteristischen Kopfendes, an welchem wir die Mundöffnung von drei eigenthümlichen Lippen umgeben finden. An jedem etwas größeren Spulwurme sieht man diese scharf gegen den Körper abgesetzten Lippen mit unbewaffnetem Auge. Die eine nimmt die Mitte der Rückenseite ein (a), die beiden anderen berühren sich in der Mittellinie des Bauches (b). Die mikroskopische Untersuchung zeigt dazu, daß die[125] Oberlippe in zwei seitlichen Grübchen je ein kegelförmiges, winziges Tastwerkzeug trägt und die beiden Seitenlippen je eines dieser Organe. Bei allen Spulwürmern ist der Größenunterschied zwischen Weibchen und Männchen sehr bemerkbar, und die letzteren, die kleineren, sind außerdem an dem hakenförmig umgebogenen Hinterleibsende kenntlich. Leider ist gerade die Lebensgeschichte der Spulwürmer und darunter die der wichtigsten Art, der den menschlichen Darmkanal bewohnenden Ascaris lumbricoides, noch nicht vollständig aufgehellt.

Die genannte Art ist einer der häufigsten Schmarotzer des Menschen und begleitet wenigstens die kaukasischen und Negerrassen über die ganze Erde. Gewöhnlich nur einzeln oder in geringerer Anzahl vorkommend, ist eine Ansammlung von einigen Hunderten doch nichts seltenes, und in einzelnen Fällen zählte man über tausend, ja zweitausend dieser unangenehmen Gäste. Ihr gewöhnlicher Aufenthalt ist der Dünndarm, von wo sie mitunter in den Magen eintreten. Kleinere Exemplare – die größten werden 16 bis 18 Centimeter lang – haben sich sogar in die Leber verirrt.


Kopf von Ascaris, Spulwurm. Vergrößert.
Kopf von Ascaris, Spulwurm. Vergrößert.

Die Schilderung der Umstände, unter welchen sogar eine Durchbohrung der Darm- und Leibeswandung, ein Eintreten in die Harnblase und so fort erfolgen kann, erlassen wir uns. Die wichtige Frage, wie der Mensch sich mit dem Spulwurme anstecken könne, ist noch nicht vollständig gelöst. Die mit dem Thiere ins Freie gelangenden Eier haben eine große Widerstandskraft gegen alle Unbilden der Witterung und allerlei Arten von Flüssigkeiten. Sie entwickeln sich sowohl im Wasser, wie in feuchter Erde und scheinen nach der Weise des Katzen-Bandwurmes als ein kleines Wesen von noch nicht einem halben Millimeter Länge in den menschlichen Darmkanal zu gelangen. Ueber die Vermuthung, daß die jungen Parasiten, noch von der Eischale umschlossen, einwanderten, spricht sich Leuckart so aus: »Bei der großen Häufigkeit des Spulwurmes und der immensen Fruchtbarkeit seiner Weibchen (jährlich etwa sechzig Millionen Eier) sind diese Eier natürlich überall verbreitet. Wir brauchen nicht einmal auf die Aborte und Miststätten zu verweisen, auch ebensowenig, wie man gethan hat, die geheimen Kommunikationen unserer Brunnen und benachbarten Kloaken oder den Dünger auf unseren Feldern zu Hülfe zu rufen, um diese Behauptung zu motiviren. Von zahllosen kleineren Infektionsherden aus werden die Eier des menschlichen Spulwurmes durch Regen und andere Kräfte in immer weitere Kreise verbreitet. Da dieselben nun trotz aller Ungunst der äußeren Verhältnisse, trotz Frost und Trocknis jahrelang ihre Keimkraft behalten, auch wegen ihrer Kleinheit leicht auf diese oder jene Weise verschleppt werden, bietet Feld und Garten, ja Haus und Hof vielfache Gelegenheit zur Uebertragung. Es ist nicht nöthig, die Einzelheiten weiter auszumalen. Die Früchte, die wir aufheben, die Rübe, die wir aus der Erde ziehen, um sie roh zu genießen, ja selbst das Wasser, das wir dem Bache entnehmen, um unseren Durst zu löschen – das alles und viel mehr noch wird gelegentlich den Träger eines keimfähigen Eies abgeben. Je verbreiteter die Eier, oder was so ziemlich dasselbe besagt, je dichter die Bevölkerung, die vom Spulwurme heimgesucht ist, je geringer die Sorgfalt, mit der die Nahrung überwacht wird, je weniger reinlich die Umgebung, in der man lebt, desto häufiger wird diese Gelegenheit wiederkehren«. Doch ungeachtet der vielen Gründe, welche die Vermuthung der Ansteckung mit dem Spulwurme direkt durch die Eier sehr plausibel machen und das Vorkommen dieser Parasiten gerade bei Kindern, Landbewohnern, den ärmeren Klassen und unkultivirten Völkern erklären, sprechen die weiteren Forschungen und Experimente, welche darüber angestellt wurden, nicht zu ihren Gunsten. Vielmehr scheint vor der Festsetzung im Menschen, gleich den meisten anderen Parasiten, auch der Spulwurm einen Zwischenwirt aufzusuchen. Welchen, wird die Zukunft lehren.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 125-126.
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