Loxosoma cochlear

[180] Es handelt sich um die Gattung Loxosoma, wofür ich den Namen Löffelthier vorschlagen möchte, da die Gestalt nicht nur des abgebildeten Loxosoma cochlear, sondern auch der meisten anderen Arten, von der Seite gesehen, ganz auffallend einem Schöpflöffel gleicht, zumal wenn die Tentakeln eingeschlagen sind.


1 Flustra foliacea. Links ein Stock in natürlicher Größe, rechts einige vergrößerte Zellen. 2 Tubulipora verrucosa. Rechts unten in natürlicher Größe.
1 Flustra foliacea. Links ein Stock in natürlicher Größe, rechts einige vergrößerte Zellen. 2 Tubulipora verrucosa. Rechts unten in natürlicher Größe.

Ihr Körper besteht aus Rumpf und Stiel. Der vordere Theil des Rumpfes trägt einen Kranz von acht bis zwölf, mit einer Doppelreihe langer Wimpern versehener Fühler. Die Mundöffnung ist am unteren Rande der Fühlerscheibe, die Darmöffnung etwas oberhalb der Mitte derselben. Der stämmige, mit Muskeln wohl ausgestattete Stiel heftet sich vermittels seines fußför migen und saugnapfartigen Endes an den selbstgewählten Standort des Thieres an, unterstützt durch die wahrscheinlich klebrige Absonderung einer großen Fußdrüse. Das ganze Thier ist ziemlich durchsichtig und führt ein sehr bescheidenes und verstecktes Dasein im Meere.

Es waren bisher nur einzelne Exemplare gefunden, sitzend auf Würmern und Bryozoen. Da entdeckte ich in Neapel eine unversiegbare Quelle, die mir nach Belieben tausende der Thiere zur Untersuchung lieferte. Sie leben in solchen Massen in den Röhren und Höhlungen oder auch oberflächlichen Vertiefungen einiger der gemeinsten Hornschwämme (Cacospongia und Euspongia), daß sie, einzeln schwer wahrnehmbar, in ihrer Gesammtheit als eine weißliche Auskleidung der Schwammröhren erscheinen. Obwohl zu langsamer Ortsbewegung befähigt, scheinen sie sich wenig oder gar nicht von dem einmal eingenommenen Platze zu entfernen; und sie finden ihre Nahrung, indem die ununterbrochene, auf der Organisation der Schwämme beruhende Wasserströmung in jenen von ihnen bewohnten Höhlungen ihnen fortwährend mikroskopische Nahrung zubringt. Dieselbe [180] wird durch die langen Wimpern der Fühler und eine wimpernde Rinne im Umkreise der Fühlerscheibe zum Munde des Löffelthieres geleitet.


a Löffelthier (Loxosoma cochlear) mit Seitensprößlingen. 200mal vergrößert. b Schwärmlarve von Loxosoma singulare. 100mal vergrößert.
a Löffelthier (Loxosoma cochlear) mit Seitensprößlingen. 200mal vergrößert. b Schwärmlarve von Loxosoma singulare. 100mal vergrößert.

Sehr merkwürdig ist ihre Fortpflanzung. Unser Bild zeigt zwei seitliche Knospen an dem Mutterthiere. Ich glaubte, daß man es hier mit einer regelrechten Eientwickelung zu thun habe, wobei der sich entfaltende Embryo nur knospenartig über die Leibeswand des Thieres hervorgetrieben würde. Allein an einer anderen Art, wo die Knospen mit der Seite an ihrer Mutter [181] befestigt sind, gelang es Nitsche, ihre wahre Natur nachzuweisen. Die jungen Thiere erreichen schnell und ohne Umschweife einer Verwandlung die Gestalt des hermaphroditischen Mutterthieres, können sogar, noch mit ihm zusammenhängend, selbständig Nahrung zu sich nehmen, und fallen nach erlangter völliger Reife ab, um neben ihrer Erzeugerin sich zu fixiren. Aber die Vermehrung beschränkt sich nicht hierauf. Zeitweise, aber ohne daß die geschilderte Fortpflanzung durch Seitensprößlinge unterbrochen wird, treten aus dem Eierstocke befruchtete Eier nach oben gegen die Fühlerscheibe hin und entwickeln sich zu Wesen, die gar keine Aehnlichkeit mit einem Loxosoma haben. Es sind Larven, welche eine weite Metamorphose durchmachen müssen, nachdem sie auf der Stufe, die wir abgebildet haben, die Kopfscheibe der Mutter durchbrochen. Der Leib ist flach, fast schildförmig, von einem wimpernden Randwulste eingefaßt. Von inneren Organen kennt man den kurzen Darmkanal, daneben zwei große Körper, erfüllt mit stark lichtbrechenden Kugeln und schwärzlichem Farbstoff. Es scheinen Sehorgane zu sein oder zu werden. Von den vier anderen in der Scheibe liegenden nierenförmigen Theilen vermuthe ich, daß es die Anlagen von Tentakeln sind. Hoffentlich gelingt es bald, den Schwärmer in seiner Umwandlung zum seßhaften Löffelthiere zu verfolgen.

Die feineren Vorgänge bei der Knospenbildung zeigen die größte Uebereinstimmung mit der Furchung und Keimblätterbildung bei der Eientwickelung. Geben uns aber, nach den Gesetzen der Abstammungslehre, die Schwärmlarven Andeutung, wie wir uns die Vorfahren der Loxosomen vorstellen sollen, so sind die Seitensprößlinge ein ausgezeichnetes Beispiel der sogenannten »verkürzten Entwickelung«. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist diese letztere Fortpflanzung ein späterer Erwerb der Loxosomen, und es würde höchst interessant sein, festzustellen, ob bei einer oder der anderen Art nur die eine oder die andere Vermehrungsweise besteht. Bei den von mir in den Wintermonaten beobachteten Arten fand immer die lebhafteste Bildung der Seitensprößlinge statt, aber nur bei Loxosoma singulare konnte ich gleichzeitig die Entwickelung der Schwärmer verfolgen. Ich glaube zu dem Schlusse berechtigt zu sein, daß die Vermehrung durch Schwärmlarven als ein Ueberbleibsel vergangener Zeiten und Formen im Erlöschen begriffen ist, während in einer künftigen Periode die Erzeugung der Seitensprößlinge als die vortheilhaftere und ergiebigere allein übrig bleiben wird. Wer von meinen Lesern sich mit Descendenzlehre und Darwinismus befaßt hat, wird mich verstehen, wenn ich die Bildung der Schwärmlarven als einen Avatismus und Rückfall auffasse, der um so seltener eintreten wird, je längere Zeit hindurch die der Erhaltung der Art so günstige Fortpflanzung durch die Seitensprößlinge wird statt gefunden haben, trotzdem, daß im allgemeinen die Sprossenbildung die ältere Weise der Fortpflanzung ist.

Mit diesem Hinweise auf höchste und allgemein wichtige Probleme der Zoologie wird das längere Verweilen beim Löffelthier entschuldigt sein.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 180-183.
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