Leberegel (Distomum hepaticum)

[162] Leider kennen wir gerade von den wegen ihrer Gefährlichkeit für Hausthiere und den Menschen wichtigeren Distomen die Lebensgeschichte nicht oder nur sehr unvollständig. Von den Verheerungen, welche der Leberegel (Distomum hepaticum) anrichtet, weiß man fast auf jeder Schäferei zu erzählen. Das Thier, welches fast drei Centimeter lang wird, hat einen blattförmigen Körper mit einem ziemlich dicken kegelförmigen Vorderende und ist bedeckt mit einer großen Menge schuppenförmiger Stacheln, die ihm beim Vordringen in die Gallengänge große Dienste leisten. Die Saugnäpfe stehen nahe bei einander und sind verhältnismäßig klein und schwach.


Leberegel (Distomum hepaticum); a Larve desselben. Letztere stark vergrößert.
Leberegel (Distomum hepaticum); a Larve desselben. Letztere stark vergrößert.

Der gewöhnliche Aufenthalt des Leberegels sind die Gallengänge bei zahlreichen pflanzenfressenden Thieren, besonders dem Schafe, und auch beim Menschen, und seine Verbreitung erstreckt sich nicht nur über ganz Europa, sondern auch über Egypten, Grönland, Nordamerika. Daß die nach Australien eingeführten Schafe ihre Parasiten mitgebracht, ist nicht befremdlich. »Um die Lebenserscheinungen«, sagt Leuckart, »und namentlich die Bewegungen der Leberegel gehörig zu studiren, muß man dieselben, wie die Bandwürmer und andere Eingeweidewürmer, alsbald nach dem Tode ihrer Wirte untersuchen, bevor sie durch die Einwirkung der Kälte in jenen Zustand der Starrheit versetzt sind, in dem sie auf den ersten Blick mehr einem welkenden Blatte als einem lebendigen Thiere ähnlich sehen. Allerdings sind diese Bewegungen auch dann nicht eben rasch und ausgiebig, aber doch immer auffallend genug und hinreichend, das Vorkommen dieser Geschöpfe und die Verbreitung in der Leber ihrer Wirte genügend zu erklären.« Die Hauptthätigkeit beim Vorwärtsdringen in den Gallengängen der Leber wird von dem kegelförmigen Vorderkörper und seinen Saugnäpfen ausgeübt. Er dringt wie ein Keil vorwärts und schleppt den übrigen Körper, dessen Seitenränder umgeschlagen oder eingerollt sind, mehr passiv nach. »Trotz aller dieser Mittel würde die Fortbewegung in den engen Kanälen aber unmöglich sein, wenn die Oberfläche des Wurmes nicht mit den oben erwähnten Stacheln besetzt wäre, die mit ihren Spitzen nach hinten stehen, ein Rückwärtsgleiten also verhindern und eine jede Zusammenziehung des Körpers, mag sie mehr oder weniger ausgebreitet sein, in eine Vorwärtsbewegung verwandeln.«

Die Annahme, daß der Leberegel sich von der Galle nähre, ist, wie Leuckart gezeigt, eine durchaus irrthümliche; vielmehr nimmt er das Blut seines Wirtes und die Substanz der inneren Wandung der Gallengänge (die Epithelialzellen) auf in seinen nach Art der Dendrocoelen verzweigten Darmkanal. Daß die Leber durch zahlreiche, in ihr wohnende Egel nach und nach zu Grunde gehen muß, liegt auf der Hand. Die Lebergänge werden entzündet, die Cirkulation des Blutes durch den fortwährenden Druck gehemmt, die Absonderung der Galle gestört. Es tritt Appetitlosigkeit, Abmagerung und Wassersucht ein. Glücklicherweise ist das Befallensein des Menschen vom Leberegel eine große Seltenheit. Der Schaden, den er unter den Schafherden anrichtet, ist [162] jedoch groß genug, um ihn zu einem der gefürchtesten Parasiten zu machen. Er producirt enorme Massen von Eiern, welche aus den Gallengängen gewöhnlich in die Gallenblase und aus dieser, wo sie sich zu Millionen anhäufen können, in den Darm des Wirtes und nach außen gelangen. Im Wasser entwickelt sich in ihnen ein mit einem weichen Flimmerkleide angethaner, mit einem kreuzförmigen Augenflecke versehener Embryo. »Um das Kleid desselben in voller Aktivität zu sehen, muß man ihn bei dem Ausschlüpfen beobachten. Nachdem er durch ein paar kräftige Bewegungen den Deckel der Eischale gelüftet hat, zwängt er sich unter Beihülfe der Flimmerhaare, die überall, wo sie mit dem Wasser in Berührung kommen, alsbald zu schlagen beginnen, durch die Deckelöffnung hindurch, um mit rapider Geschwindigkeit seine frühere Hülle zu verlassen.

Mit ausgestrecktem Körper schwimmt er rastlos vorwärts, bald gerade aus und dann beständig um die Längsaxe rotirend, bald in Bogen oder Kreisen. Der Leib hat in diesem Zustande eine kegelförmige Gestalt und eine Länge von 0,13 Millimeter (etwas über eine Zwanzigstellinie). Stößt der Embryo irgendwo an, so verweilt er einen Augenblick, wie zur Prüfung, bevor er seine Tour von neuem beginnt. Um bei der Bewegung im Wasser einen Bogen oder Kreis zu beschreiben, wird der Leib gekrümmt, um so stärker, je kürzer der Bogen sein soll. Mitunter sieht man den Embryo mit völlig eingekrümmtem Leibe ohne Ortsveränderung um seinen Mittelpunkt drehen. Hat diese Bewegung ohne Rast und Ruhe etwa zwanzig bis dreißig Minuten gedauert, dann nimmt sie allmählich ab und erlischt nach kurzer Zeit völlig. Die Haare werden starr und fallen ab nachdem das Thier sich mehr oder minder stark zu einer keulenförmigen oder ovalen Masse zusammengezogen, auch vorher vielleicht einige Versuche zur Kriechbewegung gemacht hat.« (Leuckart.) Die weiteren Schicksale dieser Larven kennt man noch nicht; man darf jedoch vermuthen, daß sie einen ganz ähnlichen Entwickelungsgang in einem Zwischenwirte durchmachen, wie die übrigen Distomen, deren Jugendformen erst frei im Wasser leben und dann in die Schnecken einwandern. »Auf welche Weise nun aber auch«, fährt unser Gewährsmann fort, »die jungen Leberegel in ihre definitiven Wirte übersiedeln mögen, darüber ist kein Zweifel, daß solches bei der Nahrungsaufnahme und zwar gewöhnlich auf der Weide geschieht. Man hat durch eine Anzahl von Beobachtungen festgestellt, daß Schafe, die kurze Zeit auf einer verdächtigen Weide verweilten, mit einziger Ausnahme derjenigen Thiere, die wegen Krankheit oder aus anderen Gründen zurückgehalten wurden, sämmtlich an der Leberfäule zu Grunde gingen. Ebenso weiß man von englischen Schafzüchtern, die, um keine Konkurrenz aufkommen zu lassen, nur solche Thiere verkaufen, welche sie vorher ›verhütet‹, das heißt auf gewissen Weiden mit Leberegeln inficirt haben. In manchen Fällen will man schon sechs Wochen nach dem Aufenthalte auf verdächtigen Wiesen den Eintritt der Egelkrankheit bei Schafen beobachtet haben.« Wie sehr diese von Zeit zu Zeit wüthet, erhellt aus den Angaben eines französischen Naturforschers, der für Frankreich in diesem Jahrhundert neun Leberegeljahre aufzählt: 1809, 1812, 1816, 1817, 1820, 1829, 1830, 1853, 1854. In der Umgegend von Arles gingen deren dreihunderttausend, und bei Nîmes und Montpellier siebzigtausend Schafe zu Grunde. In der Leber eines einzigen Thieres sollen mitunter über tausend Egel gefunden worden sein, die Zahl von zweihundert scheint aber selten überschritten zu werden.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 162-163.
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