Eßbaren Miesmuschel (Mytilus edulis)

[361] Die Mundlappen sind schmal und zusammengefaltet. Zu diesen recht charakteristischen Kennzeichen kommt aber noch eine sehr auffallende Beschaffenheit des Fußes und das Vorhandensein einer besonderen Spinndrüse, welche Einrichtungen mit der sitzenden Lebensweise dieser Thiere zusammenhängen.


Eßbare Miesmuschel (Mytilus edulis). Natürliche Größe.
Eßbare Miesmuschel (Mytilus edulis). Natürliche Größe.

Wir wollen diese Einrichtungen, den fingerförmigen Fuß und den Bart bei der eßbaren Miesmuschel (Mytilus edulis) unserer Meere näher kennen lernen. Was die Gattung an sich betrifft, so ist das Gehäuse leicht daran zu erkennen, daß die Wirbel spitzig sind und ganz am vorderen spitzen Winkel der beinahe dreieckigen Schalenhälften sitzen. Die lange Seite der Schale ist die Bauchseite. In der nebenstehenden Abbildung haben wir eine durch Hinwegnahme der linken Schalenhälfte und Zurückschlagen der linken Mantelhälfte geöffnete eßbare Miesmuschel; a ist der Mantelrand. Zu beiden Seiten des Mundes (f) befinden sich die beiden länglichen, schmalen Lippententakeln (g); j ist das äußere, i das innere Kiemenblatt, e und d die Muskeln, welche zum Zurückziehen des Fußes dienen. Letzterer (b) ist fingerförmig, und man sieht es schon seiner geringen Größe an, daß er nicht wohl als Fortbewegungsorgan zu benutzen ist. Unter und hinter dem Grunde des fingerförmigen Fußfortsatzes oder des »Spinners« liegt die sogenannte Byssusdrüse, eine Höhle, von welcher aus auf der Mitte der Unterseite des Spinners eine Längsfurche verläuft, welche vorn in der Nähe der Spitze in eine kurze und tiefe Querfurche endigt. In dieser liegt eine halbmondförmige Platte, auf deren vorderem konkaven Rande sieben Oeffnungen stehen. Beginnt das Thier zu spinnen, so legt es zuerst die eben erwähnte Spinnplatte an die Byssusdrüse, und beim Zurückziehen wird der Klebestoff zu einem Faden ausgezogen, welcher in die offene Furche des Fingers zu liegen kommt. Vermittels der Spinnplatte wird dann das Vorderende des noch weichen Fadens in Form eines kleinen Scheibchens an irgend einen Körper angedrückt. Die Gesammtheit aller dieser Fäden bilden den Bart (c) oder Byssus. Wer Gelegenheit gehabt, Miesmuscheln von ihrem Wohnorte abzureißen, wird über die Festigkeit der Bartfäden erstaunt sein. Die stärkste Strömung und Brandung hat ihnen nichts an. Ein sehr bezeichnender Beleg dafür ist der Gebrauch, den man in Bideford in Devonshire von der Miesmuschel macht. Bei dieser Stadt geht eine vierundzwanzig Bogen lange [361] Brücke über den Torridge-Fluß bei seiner Einmündung in den Taw. An ihr ist die Strömung der Gezeiten so reißend, daß kein Mörtel daran dauert. Die Gemeinde unterhält daher Boote, um Miesmuscheln herbeizuholen, und läßt aus der Hand die Fugen zwischen den Bausteinen damit ausfüllen. Die Muschel sichert sich alsbald dagegen, von den Gezeiten fortgetrieben zu werden, indem sie sich durch starke Fäden an das Steinwerk anheftet, und eine Verordnung erklärt es für ein Verbrechen, welches Landesverweisung nach sich führen kann, wenn jemand anders als im Beisein und mit Zustimmung der Gemeinde-Bevollmächtigten diese Muscheln abnimmt. Die Fäden des Bartes dienen der Miesmuschel aber nicht bloß, um sich zu befestigen, sondern auch, um sich an ihnen, wie an kleinen Seilen, fortzuziehen. Hat die Muschel irgendwo Platz genommen und ist sie nicht etwa schon durch ihre Nachbarinnen eingeengt und theilweise übersponnen, so zieht sie sich, wenn ihr der Ort nicht mehr zusagt, so nahe als möglich an die Befestigungsstelle des Byssus heran.


Eßbare Miesmuschel (Mytilus edulis). Natürliche Größe.
Eßbare Miesmuschel (Mytilus edulis). Natürliche Größe.

Hierauf schickt sie einige neue Fäden nach der Richtung hin, wohin sie sich begeben will, und wenn diese haften, schiebt sie den Fuß zwischen die alten Fäden und reißt mit einem schnellen Rucke einen nach dem anderen ab. Sie hängt nun an den eben erst gesponnenen Fäden, und reißt auch diese ab, nachdem sie für abermalige Befestigung in der angenommenen Richtung gesorgt hat. Wie aus der obigen Mittheilung schon hervorgeht, siedelt sich Mytilus edulis dort, wo starke Ebbe und Flut ist, in der Uferregion an, welche zeitweise bloßgelegt wird. An vielen Stellen der zerrissenen norwegischen Küste kann man ein schwarzes, einen bis zwei Fuß breites Band zur Ebbezeit über dem Wasserspiegel sehen, die unzählbaren Miesmuscheln, über, zum Theil schon auf welchen der weißliche Gürtel der Balanen folgt, deren Spitzen das Herausspringen aus dem Boote bei unruhiger See gar sehr erleichtern. Wo aber die Gezeiten keinen großen Niveau-Unterschied haben und auch aus anderen lokalen Ursachen siedeln sich die Miesmuscheln etwas tiefer an, so daß sie immer vom Wasser bedeckt bleiben.

Die Miesmuschel gedeiht am besten in der Nordsee und in den nordeuropäischen Meeren. Sie gehört zu den nicht zahlreichen Muscheln und überhaupt Seethieren, welche aus den Meeren mit normalem Salzgehalte, wie aus der Nordsee, in die mehr oder weniger gesüßten, ihres Salzgehaltes beraubten Meere und Binnenmeere, wie die Ostsee, eindringen. Auch im Kaspischen Meere kommt sie mit einigen anderen verkümmerten Muscheln vor, ohne im Stande gewesen zu sein, bei der so langsam erfolgten Versüßung dieses Wassers sich vollständig und kräftig zu akklimatisiren. Es wird jedoch angegeben, daß sie mit einer Herzmuschel von dort in einige Flüsse weit hin auf [362] gedrungen sind, wo sie auch noch von dem letzten Meeressalz-Bedürfnisse sich emancipirt hätten. Ihre Vermehrung unter günstigen Bedingungen ist eine erstaunliche. Meyer und Möbius erzählen, daß an einem Badeflosse, welches vom 8. Juni bis 14. Oktober in der Kieler Bucht gelegen hatte, alle unter Wasser befindlich gewesenen Theile so dicht mit Miesmuscheln bedeckt waren, daß dreißigtausend Stück auf einen Quadratmeter kamen. Die Schätzung bleibt aber unter der Wirklichkeit, da sich beim Zählen sicherlich viele sehr kleine Individuen, welche zwischen den Byssusfäden der größeren hingen, der Beachtung entzogen hatten. In der Kieler Bucht erreichen die Thiere in vier bis fünf Jahren ihre volle Größe; am schnellsten wachsen sie in den ersten zwei Jahren.

Man benutzt die Miesmuschel überall, wo sie gedeiht, theils als Köder, theils auch für die Küche und hat für diesen letzteren Bedarf an vielen Orten eine eigene Muschelwirtschaft und Zucht eingerichtet. Genaue Nachrichten über eine solche geregelte Miesmuschelzucht haben uns Meyer und Möbius in ihrem schönen Werke über die Fauna der Kieler Bucht gegeben. »Auf der Oberfläche der Hafenpfähle und Breter, der Badeschiffe, Boote und Landungsbrücken siedeln sich, soweit sie unter Wasser stehen, Miesmuscheln an, deren junge Brut oft wie ein dichter Rasen darauf wuchert. Ihre künstlichen Wohnplätze sind die Muschelpfähle, die Bäume, welche die Fischer bei Ellerbeck, einem alten malerischen Fischerdorfe, das Kiel gegenüber liegt, auf den zu ihren Häusern gehörenden Plätzen unter Wasserpflanzen. Zu solchen Muschelbäumen werden vorzugsweise Ellern benutzt, weil sie billiger als Eichen und Buchen sind, die jedoch auch dazu dienen. Diesen Bäumen nimmt der Fischer die dünnsten Zweige, schneidet die Jahreszahl in den Stamm, spitzt sie unten zu und setzt sie mit Hülfe eines Taues und einer Gabel in die Region des lebenden oder todten Seegrases auf zwei bis drei Faden Tiefe fest in den Grund. Das ›Setzen‹ der Muschelbäume geschieht zu jeder Jahreszeit, ›gezogen‹ werden sie aber nur im Winter, am häufigsten auf dem Eise, da dann die Muscheln am besten schmecken und ungefährlich sind. Die Muschelbäume ziehen sich an beiden Seiten der Bucht dem Düsternbrooker und Ellerbecker Ufer entlang, gleichsam wie unterseeische Gärten, die man nur bei ruhiger See unter dem klaren Wasser sehen kann. Treiben anhaltende Westwinde viel Wasser aus der Bucht hinaus, so ragt wohl hier und da die höchste Spitze eines Baumes über den niedrigen Wasserspiegel heraus. Sonst bleiben sie immer bedeckt und unsichtbar. Wir haben oft Muschelpfähle ziehen lassen, um die Bewohner derselben zu sammeln, und uns dabei an den Hantirungen und Bemerkungen der Ellenbecker Fischer ergötzt. Sie haben Kähne von uralter Form mit flachem Boden und steilen Seitenwänden und rudern dieselben mit spatenförmigen Schaufeln. Den Stand ihrer Muschelpfähle wissen sie durch Merkzeichen am Lande, die sie aus der Ferne fixiren, aufzufinden. Und wenn sie über einem Baume angekommen sind, so treiben sie eine Stange in den Grund, um den Kahn daran festzubinden; dann schlingen sie ein Tau um einen Haken, führen dieses unter Wasser um den Stamm des Muschelbaumes herum und winden denselben damit in die Höhe. Sobald er erst aus dem Grunde gezogen ist, hebt er sich viel leichter, erscheint dann bald an der Oberfläche und wird so weit über das Wasser gehoben, daß die Muscheln von den Zweigen gepflückt werden können. Gewöhnlich sind diese recht besetzt. In Büscheln und Klumpen hängen daran große Muscheln, die ihre Byssusfäden entweder am Holze oder an den Schalen ihrer Nachbarn festgesponnen haben, und zwischen ihnen und auf ihren Schalen wimmelt es von verschiedenen Thieren.

In der Kieler Bucht werden jährlich gegen tausend Muschelpfähle gesetzt und ebensoviel gezogen, nachdem sie drei bis fünf Jahre gestanden haben; denn so viel Zeit braucht die Miesmuschel, um sich zu einer beliebten Speise auszubilden. Auf dem Kieler Markte kommen im Jahre ungefähr achthundert Tonnen Muscheln zum Verkaufe, wovon jede durchschnittlich zweiundvierzigtausend Stück enthält. Also werden zusammen in einem Winter 3,360,000 Stück geerntet. Es gibt gute und schlechte Jahrgänge und zwar nicht bloß in Rücksicht der Menge, sondern auch der Qualität der Muscheln.«

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 361-363.
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