Polycera ocellata

[314] Eine dritte Gattung der Dorididen ist die Hörnchenschnecke, Polycera. Ihr Körper ist gestreckt, vorn abgerundet, hinten zugespitzt. Das Hauptkennzeichen sind die längeren Warzen am Kopfe und neben den Kiemen, die am Stirnrande wie Hörnchen vorspringen. Die eine der bei Kiel vorkommenden Arten, Polycera ocellata, gab zu einer interessanten Erwägung über ein Speciesmerkmal Veranlassung. Alle Polycera-Arten der britischen Küsten, darunter auch Polycera ocellata, haben in der Haut kleine Kalkstäbchen. Die auffallendste Verschiedenheit der in der Kieler Bucht vorkommenden Exemplare der Polycera ocellata von den Exemplaren der Nordsee ist der Mangel jener Kalkkörper. »Wenn einzelne Kalkkörper«, fahren Meyer und Möbius fort, »in Exemplaren von Polycera ocellata, welche auf dem Wege zwischen der offenen Nordsee und der Kieler Bucht wohnen, gefunden werden sollten, so würde die Meinung, daß aus dem Besitze [314] oder Mangel derselben keine specifischen Verschiedenheiten abzuleiten seien, eine sichere Stütze gewinnen. Und diese haben wir auch zu unserer nicht geringen Freude am zweiten Pfingsttage 1863 im Fänö-Sund gefunden. Kaum war nach einer kalten Morgenfahrt von Assens aus der Anker gefallen und unsere Jacht im Sonnenscheine unter dem Schutze hoher Buchen in Ruhe gelegt, so wurde das Grundnetz ausgeworfen. Schon der erste Zug brachte uns von Kiel her wohlbekannte Thiere zu Tage, darunter auch Exemplare von Polycera ocellata, die aber meistens auffallendere gelbe Flecke auf einer dunkleren Grundfarbe als die Kieler Exemplare trugen. Alle hatten Kalkstäbchen in der Haut, auch die bleichfarbigen, welche auf tiefem Grunde gefischt wurden. Ist vielleicht ungleicher Salzgehalt die Ursache der Verschiedenheit? Dieses zu denken, liegt sehr nahe; doch spricht gegen eine solche Annahme der Mangel von Kalkkörpern in Exemplaren aus einer kleinen Bucht von Samsö, die der salzreichen Nordsee noch näher liegt als der kleine Belt. Wir halten besonders die starke Strömung in dem großen und kleinen Belt für eine wichtige Bedingung der größeren Aehnlichkeit ihrer Fauna mit der Nordseefauna, denjenigen Thierformen gegenüber, welche die ruhigen Buchten des westlichen Ostseebeckens bewohnen.«


Weiße Griffelschnecke (Ancula cristata). Stark vergrößert.
Weiße Griffelschnecke (Ancula cristata). Stark vergrößert.

Lassen wir die Ursachen des Vorhandenseins oder des Mangels jener Kalkkörperchen bei Seite und halten wir uns an die Thatsache. Wir sehen eine Eigenschaft, welche eine Art mit allen übrigen Arten ihrer Sippe theilt, unter uns unbekannten Einflüssen schwinden; wir sehen eine Varietät entstehen, zu deren Artwerdung weiter nichts als eine vollständige Isolirung von dem Verbreitungsbezirke der Stammart gehören würde. Denn das Vorhandensein der Kalkkörperchen setzt doch eine sehr eingreifende und eigenthümliche Thätigkeit der Hautzellen voraus, welche mindestens so viel Beachtung verlangt als tausend andere Kleinigkeiten, nach welchen in der niederen Pflanzen- und Thierwelt Arten unterschieden zu werden pflegen. Die niederen Thiere werden uns noch des öfteren solche frappante Beispiele der Nichtstichhaltigkeit der sogenannten Artmerkmale bringen.

Die Neigung der Rückenhaut zu warzenförmigen oder anders gestalteten Ausstülpungen ist bei einigen Gattungen so gesteigert, daß sie wiederum zu einer eigenen Familie sich gruppiren, den Aeolididen, deren Athmungsorgane eben jene Rückenanhänge und Rückenpapillen sind.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 314-315.
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