3. Sippe: See-Perlenmuscheln (Avicula)

[388] Der Geognost findet in dieser Familie mehrere wichtige sogenannte Leitmuscheln, aus deren Vorkommen er auf das Alter und die Verwandtschaft oder Gleichheit der betreffenden Schichten und Gesteine schließt, während sie den vergleichenden Paläontologen über das Vorherrschen der Monomyarier in den älteren Perioden der Erde belehren. Für den Beobachter des Lebens und der Sitten der Thiere geben aber die lebenden Sippen, wie so viele lebende Muscheln, auch keine Ausbeute. Dagegen spielt eine Sippe, die See-Perlenmuschel (Avicula), in der Kultur- und Handelsgeschichte eine große Rolle. Was oben über die Entstehung und Beschaffenheit der Perlen nach von Heßling mitgetheilt wurde, gilt im wesentlichen auch für die Seeperlen, obschon das Thier und seine Physiologie bis jetzt noch nicht Gegenstand einer speciellen, sorgfältigen Untersuchung gewesen ist.

Alle Avicula-Arten haben am Schloßrande vorn, häufig auch hinten, eine ohrförmige Verlängerung. Das Schloß ist vollkommen zahnlos oder hat in jeder Schale einen stumpfen Zahn. Die rechte Schale hat vor dem vorderen Ohre einen Ausschnitt für den Bart. Es sind etwa dreißig Arten bekannt, welche, mit Ausnahme einer im Mittelmeere vorkommenden, sämmtlich in den heißen Meeren leben. »Die Kenntnisse über ihre Lebensweise«, sagt von Heßling, »sind weniger [388] die Resultate genau angestellter Untersuchungen, als zufälliger oder oberflächlicher Beobachtungen, welche überdies aus alten Ueberlieferungen unkundiger Fischer und Schiffsleute von Munde zu Munde sich forterbten. Gewöhnlich an einem und demselben Standorte einer und derselben Art angehörig, erhalten sie in den Tiefen des Meeresgrundes durch die Beschaffenheit des Bodens, auf welchem sie wohnen, sowie nach den verschiedenen pflanzlichen und thierischen Organismen, welche ihre Schalen überwachsen, ein mannigfaltiges Aussehen und deshalb gar häufig verschiedene Benennungen. Bald sind ihre Schalen mit großen becherförmigen Schwämmen (Coda der Schiffer) völlig wie überschattet, bald wie mit einer der Betelfarbe ähnlichen Tünche (ebenfalls einem Schwamme) überzogen. Auf den einen Bänken lagern die Thiere mit ganz freien, unbedeckten Schalen, auf den anderen sind letztere Träger von Korallenstämmen, welche oft fünfmal schwerer als die Schalen selbst sind; an noch anderen Stellen kleben sie fest an den Riffen und Klippen der Felsen, besonders die jüngeren Thiere, und können, mit ihren Bys susfäden in dichten, zähen Klumpen an einander hängend, hervorgezogen werden; oder die Muscheln liegen in weichem Boden und sandigem Grunde, in welchem sie, mit dem einen Ende aufgerichtet, theils bewegungslos stecken, theils meist mit dem Schlosse voraus, langsame, in querer Richtung erfolgende Wanderungen anstellen.


See-Perlenmuschel (Avicula meleagrina). 1/2 natürl. Größe.
See-Perlenmuschel (Avicula meleagrina). 1/2 natürl. Größe.

Die Höhe, bis zu welcher die Bänke aufgeschichtet liegen, ist verschieden; nach der Aussage verständiger Taucher beträgt sie nicht über anderthalb bis zwei Fuß, und ihre Tiefe im Meere reicht oft von drei bis funfzehn, gewöhnlich fünf bis acht Faden.«

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 388-389.
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