Lima hians

[394] Als ich im Mai und Juni 1850 im Bergen-Fjord mit dem Schleppnetze sammelte, wußte ich noch nicht, daß es nestbauende Muscheln gäbe. Da erbeutete ich eines Tages einen etwa zwölf Centimeter im Durchmesser habenden und äußerlich sehr ungehobelt aussehenden Klumpen, der aus lauter Steinchen und Muschelfragmenten bestand und, wie sich auf den ersten Blick ergab, durch ein Gewirr gelblicher und brauner Fäden zusammengehalten wurde. »Ein Muschelnest!« riefen meine Ruderer, und richtig, wie ich den Ballen umdrehte, glänzte mir aus einer ziemlich engen Spalte die weiße Schale der Feilenmuschel (Lima hians) entgegen. Ich spülte das Thier aus seinem Neste heraus und konnte mich vorerst, nachdem ich es in ein weites Glasgefäß gethan, nicht satt genug sehen an der Pracht seines Mantelbesatzes und der Lebhaftigkeit seiner Bewegungen. Das längliche gleichschalige Gehäuse ist von reinstem Weiß, klafft an beiden Enden, besonders aber vorn, und läßt eine Menge orangefarbener Fransen des Mantelrandes hervortreten, welche, wenn das Thier sonst ruhig ist, die verschiedensten wurmartigen Bewegungen machen, wenn es aber auf seine höchst sonderbare Weise schwimmt, wie ein feuriger Schweif nachgezogen werden. Kaum nämlich hat [394] man die Muschel frei ins Wasser gesetzt, so öffnet sie und klappt die Schale mit großer Heftigkeit zu und schwimmt nun stoßweise nach allen Richtungen. Dabei sind einzelne der schönen Fransen abgerissen, scheinen aber dadurch erst recht lebendig geworden zu sein, indem sie am Boden des Gefäßes ihre Krümmungen, wie Regenwürmer, auf eigene Faust fortsetzen. Das kann, wenn man das Wasser frisch erhält, ein paar Stunden dauern. Bleibt das Thier im Neste, so läßt es den dichten Fransenbüschel, der von dem nach innen gekehrten Rande des fast vollständig gespaltenen Mantels abgeht, aus der Nestöffnung herausspielen, so daß von der Schale nichts zu sehen ist. Offenbar dienen sie, da sie mit lebhaft agirenden Wimpern bedeckt sind, zur Herbeischaffung der kleinen mikroskopischen Beute und des Athemwassers. Daß diese lebhafte Muschel in einem Neste wohnt, welches sie offenbar nicht verläßt, ist eine vor der Hand etwas ungereimte Thatsache.


Nest der Feilenmuschel (Lima hians). Natürliche Größe.
Nest der Feilenmuschel (Lima hians). Natürliche Größe.

Betrachten wir nun das Nest etwas näher. Das Thier befestigt eine Menge ihm gerade zunächst liegender Gegenstände durch Byssusfäden einer gröberen Sorte aneinander. Wie gesagt, waren die Nester, welche ich in Norwegen sah, fast nur aus kleineren leichten Steinchen und Muschelstückchen zusammengefügt; das abgebildete, welches Lacaze-Duthiers an einer seichten Stelle im Hafen von Mahon fand, vereinigt in buntester Auswahl Holz, Steine, Korallen, Schneckenhäuser usw. und hat dadurch ein viel ungeschickteres Aeußere bekommen, als ich gesehen. Man hat zwar die Lima noch nicht beim Nestbaue beobachtet, allein da man bei der Miesmuschel sich leicht davon überzeugen kann, daß das Thier beliebig die Bartfäden abzureißen vermag, so wird man auch der Feilenmuschel dieses Vermögen zuschreiben müssen. Nachdem sie nun die groben Außenwände des Hauses zusammengestrickt und die Bausteine durch hunderte von Fäden verknüpft hat, tapeziert sie es inwendig mit einem feineren Gewebe aus, und es gleicht auch in dieser Beziehung dem feinsten und bequemsten, von außen wenig einladenden Vogelneste. So bildet es für die durch ihr klaffendes Gehäuse wenig geschützte Muschel eine gute Festung, welche auch die gierigsten Raubfische zu verschlingen Anstand nehmen werden. Nach der Art, wie mir wiederholt in Norwegen in ziemlichen Tiefen von zwanzig bis dreißig Faden die Limen ins Schleppnetz geriethen, muß ich annehmen, daß sie auf tieferem Meeresgrunde, wo sie nicht durch Wellen und Strömungen gestört werden, sich nicht erst unter größeren Steinen den Platz für ihr Nest aussuchen. Diejenigen, welche der oben genannte französische Zoolog in Mahon sammelte, befanden sich alle im seichten Wasser und durch große Steine geschützt. Getrocknet werden die die Materialien verbindenden Fäden sehr brüchig, [395] daher die Nester, obgleich durchaus nicht selten, sich doch nicht zur Aufbewahrung in Naturaliensammlungen eignen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 394-396.
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