Zweite Ordnung: Die Vorderkiemer[256] (Prosobranchia)

Fast alle im Meere lebenden Schnecken, welche mit einem Gehäuse von festerer Beschaffenheit versehen sind, bilden diese stärkste Abtheilung, die in Anbetracht ihres ungeheueren Verbreitungsgebietes, der Nahrung und Lebensweise sowie der Verwendung eine ihrer Anzahl entsprechende Mannigfaltigkeit zeigt. Auch ihnen gewann das Alterthum nur da ein Interesse ab, wo der Luxus und die Tafelfreuden im Spiele waren, oder wo sich an einzelne Arten fabelhafte, oft sehr abgeschmackte Erzählungen knüpften. Das ganze Mittelalter hindurch war es nicht viel anders. Erst als der Seeweg nach Indien, nach den Gewürzinseln und ihren Herrlichkeiten eröffnet war, und einzelne Naturfreunde als Aerzte und Beamte die langen Jahre des Heimwehs in der neuen reichen Natur zu mildern trachten mußten, wandten sie sich vorzugsweise dem bunten Schmucke der Weichthiergehäuse zu, die Sammlungen und Raritätenkammern füllten sich, und zahlreiche Beschreibungen der Schalen und werthvolle Notizen über Lebensweise und Verwendung ihrer Träger wurden nach und nach ein Gemeingut der gebildeten Welt. Den Schneckenliebhabern in Europa, namentlich in Holland, kam es allerdings nur auf den Glanz und die Farbe der Schale an, und Rumph beklagt sich in seinem Amboinischen Raritätenkabinete, daß seine Landsleute glaubten, sie würden bereits so glänzend und schön am Strande gefunden oder aus der See herausgefischt. In achtundzwanzig Jahren mühsamen Sammelns habe er nur dreihundertundsechzig Arten aus der Umgebung von Amboina zusammengebracht. Das Suchen am klippenreichen Strande, sagt er, ist ebenso verdrießlich, und hat ebensoviel Plage, als wenn man am flachen sandigen Strande sucht. Denn was die Sandgestade betrifft, so hat man beständig den großen Seemörder oder Kaiman zu fürchten, auch sich vor morastigen Gruben zu hüten, damit man nicht etwa auf die scharfen Stachel der Seeäpfel oder auf den giftigen Fisch Ican Swangi trete. Am Klippenstrande sei man zwar vor dem Kaiman sicher, allein da beschädige man sich wieder die Füße an den Korallen und See-Igeln.

Dies und anderes Ungemach und wie viel Mühe die Reinigung und das Poliren der Gehäuse mache, stellt er seinen in Holland behaglich sitzenden »Korrespondenten« vor. Aber kurz, wir sehen, wie die Schneckengehäuskunde oder Konchyliologie, vorzugsweise an diese Ordnung anknüpfend, seit dem letzten Drittel des siebzehnten Jahrhunderts von zahlreichen, meist dilettantischen Naturliebhabern gepflegt wurde und wegen der Handlichkeit und Unzerstörbarkeit des Materials weit früher eine gewisse Ausbildung erlangte, als die Insektenkunde, sofern man darunter mehr die Artkenntnis und nicht die Anatomie versteht. Denn über Insektenanatomie haben wir schon aus dem siebzehnten Jahrhunderte vorzügliche Leistungen.

Das wirkliche wissenschaftliche Verständnis wurde aber erst durch die Arbeiten des großen Cuvier im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts angebahnt, und seitdem sind wir, wie bekanntlich in allen Theilen der Thierkunde, so auch hier, zu einem gewissen Abschlusse gelangt.

Was die Prosobranchien zu Schnecken macht, bedarf, nachdem wir schon den Bau der Lungenschnecken etwas kennen gelernt, keiner weiteren Erläuterung. Wir knüpfen mit ihnen insofern wieder bei den Kopffüßern an, als ihre Athmungswerkzeuge Kiemen sind, welche unter einer Mantelfalte oder in einer durch ein Loch, einen Ausschnitt oder eine Röhre zugänglichen Höhle verborgen liegen. Die wichtigsten anatomischen Verhältnisse, welche auch den Namen Vor- oder Vorderkiemer erläutern, betrachten wir an der beistehenden Umrißfigur des aus dem Gehäuse[256] genommenen Thieres von Litoridina Gaudichaudii und zwar des Männchens. Wer sich mit den Theilen der Weinbergschnecke bekannt gemacht hat, wird ohne alle Schwierigkeit den Bau und die Lage der Organe irgend einer anderen Schnecke begreifen.


Männchen von Litoridina mit aufgeschnittener und zurückgeschlagener Kiemenhöhle c. a Mund. p Fuß. b Begattungsorgan. m Schalenmuskel. d After. f Schleimdrüse. e Niere. g Kieme. h Herz. Natürliche Größe.
Männchen von Litoridina mit aufgeschnittener und zurückgeschlagener Kiemenhöhle c. a Mund. p Fuß. b Begattungsorgan. m Schalenmuskel. d After. f Schleimdrüse. e Niere. g Kieme. h Herz. Natürliche Größe.

Wir sehen den Kopf in eine mäßige Schnauze ausgezogen (a), an deren Ende sich die Mundöffnung befindet. Eine solche Schnauze, welche nicht einzustülpen ist, sich aber gewöhnlich verkürzen kann, finden wir bei vielen Gattungen dieser Ordnung, während andere einen Rüssel besitzen. Letzterer ist eine röhrige, oft sehr ansehnliche Verlängerung, welche ebenfalls an ihrem Ende die Mundöffnung trägt, aber durch besondere Muskeln eingezogen werden kann. Nichtsdestoweniger ist der Rüssel eine nur verlängerte Schnauze, was unter anderem daraus hervorgeht, daß seine äußere Haut genau so beschaffen und gefärbt ist, wie die übrige Kopfhaut. Der Fuß (p) unseres Thieres ist ziemlich klein, ist aber jene breite Sohle, welche die meisten Schnecken charakterisirt. Ueber ihm und mit ihm zusammenhängend sehen wir den Muskel (m), durch welchen das Thier mit der Schale zusammenhängt, den Schalenmuskel. Hat man die Mantelhöhle rechts aufgeschnitten und zurückgeklappt, so präsentirt sich die innere Fläche dieses Mantellappens (c) mit wichtigen Organen. In der natürlichen Lage befindet sich am meisten nach rechts der Mastdarm mit der Afteröffnung (d). Neben ihm liegt eine Drüse, die man gewöhnlich Schleimdrüse (f) nennt. Die Schnecken können aus ihr eine außerordentliche Menge einer dickflüssigen Masse absondern und nöthigenfalls als Vertheidigungsmittel benutzen. Die den Purpursaft absondernde Drüse einiger Gattungen scheint dasselbe Organ zu sein, auf das wir an der betreffenden Stelle wieder zurückkommen. Mehr nach der linken Seite liegt die kammförmige, aus einzelnen schmalen Blättchen zusammengesetzte Kieme (g) und hinter ihr das aus zwei Abtheilungen, Vorkammer und Kammer, bestehende Herz (h). Alle diejenigen Schnecken, bei welchen, wie hier, die Kieme vor dem Herzen und dann also die Vorkammer vor der Kammer liegt werden Vorderkiemer genannt. Vom Herzen aus verbreitet sich das Blut durch besondere Arterien in den Körper; bei den meisten Schnecken scheint es aber keine eigenen, mit besonderen Wandungen versehene, das Blut dem Athmungsorgane zuführende Gefäße oder Venen zu geben, sondern das Blut cirkulirt in diesem zweiten Abschnitte seines Laufes in bloßen gefäßartigen oder auch höhlenförmigen Erweiterungen der Körpersubstanz, und in vielen Fällen ist nachgewiesen, daß durch die Niere reines Wasser in das Blut aufgenommen, oder mit Wasser stark verdünntes Blut ausgeschieden werden kann. Im Zusammenhange mit dieser Verbindung der inneren größeren venösen Bluträume mit der Außenwelt steht eine Einrichtung, welche das ausgezeichnete Schwellvermögen des Fußes vieler Weichthiere und auch der meisten Vorderkiemer erklärt und deren Kenntnis für die richtige Auffassung verschiedener Formveränderungen und Bewegungen dieser Thiere unentbehrlich ist. Im Fuße einer ganzen Reihe von Gattungen ist eine Oeffnung entdeckt, welche in ein weit verzweigtes Kanalsystem dieses Körpertheiles führt und von dort aus auch mit der venösen Körperbluthöhle kommunicirt. Beim Entwickeln des Fußes aus dem Gehäuse wird durch jene Oeffnung Wasser in denselben aufgenommen und dadurch ist es möglich, daß er [257] eine Ausdehnung annimmt, welche mit der Weite des Gehäuses in keinem Verhältnisse steht. Beim Zurückziehen des Fußes fließt das Wasser einfach wieder aus. Einen entscheidenden Versuch darüber machte Agassiz und andere mit der großen Natica heros. Setzte er ein Exemplar dieser Schnecke mit eingezogenem Fuße in ein bis an den Rand gefülltes Glas Wasser, so entfaltete das Thier den ganzen Fuß, ohne die geringste Niveauänderung des Wassers. Die Entfaltung konnte also nicht etwa geschehen durch eine bloße mit Volumenvergrößerung verbundene Ausdehnung der Körpergewebe, sondern der Fuß mußte sich wie ein Schwamm voll Wasser saugen und konnte nur dadurch zu seiner erstaunlichen Größe anschwellen. Ganz dieselben Resultate ergaben zahlreiche Versuche mit Schnecken und Muscheln, die in graduirten Glasröhren beobachtet wurden und bei deren Bewegungen unter Wasser nie ein das Ausstoßen und Einziehen begleitendes Steigen oder Fallen des Wassers sich zeigte. Wir empfehlen zu diesem ebenso einfachen als interessanten und lehrreichen Experimente unsere größeren Fluß- und Teichmuscheln.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 256-258.
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