5. Sippe: Uferschnecken (Litorina)

[261] Wahre amphibiotische Thiere sind die Litorina-Arten oder Strandschnecken. Das Thier hat eine kurze runde Schnauze und lange fadenförmige Fühler, welche die Augen ebenfalls außen am Grunde tragen. Das dickrandige, porzellanartige Gehäuse ist im allgemeinen von kugeliger Gestalt. Es sind über hundert Arten aus allen Meeren bekannt, welche die meiste Zeit oberhalb des Wasserspiegels in jener Uferzone zubringen, welche nur von der Flut oder gar nur von den springenden Wellen beim Hochwasser erreicht wird. Johnston sagt: »Die an der britischen Küste gemeinen Litorina-Arten scheinen in der That solche Stellen vorzuziehen, wo sie nur vom Hochwasser bedeckt werden können, und ich habe Myriaden Junge davon in Felshöhlen einige Fuß hoch über dem höchsten Flutstande gesehen. Gleichwohl sind ihre Athmungsorgane, wie immer, nur Kiemen, und es scheint nicht leicht, hierbei sich nicht an die Unwahrscheinlichkeit der Lamarck'schen Hypothese zu erinnern und zu fragen, warum diese Weichthiere, so begierig nach Luft, doch während ihres Aufenthaltes in derselben noch keine Lungen, wie die Schnirkelschnecken, bekommen und sich ganz aufs Land begeben haben; warum ihre Schalen noch nicht leichter geworden, um ihnen mehr Behendigkeit der Bewegung zu gestatten, warum ihre am Grunde der Fühler gelegenen Augen sich noch nicht zu größerer Höhe erhoben haben, damit sie die Landschaft übersehen und deren Gefahren vermeiden können«. Lamarck, gegen welchen der ironische Angriff des Engländers sich richtet, ist der [261] Urheber der Umwandlungslehre, welche durch Darwin erweitert und wissenschaftlich begründet wurde. So wohlfeil, wie Johnston, kann man sich aber jetzt nicht mit Lamarck abfinden. Gesetzt, Thiere, welche durch Kiemen Wasser athmen, sollen sich im Laufe der Zeiten zu Luftathmern umwandeln, so kann dies auf zwei Wegen geschehen. Der einfachere Fall, der hier vorliegt und der auch bei den Landkrabben, den Asseln und anderen Krebsen in ausgezeichneter Weise verwirklicht ist, wird darin bestehen, daß die ehemaligen Athmungsorgane ihre Form nicht ändern, sondern daß ihre Oberfläche eine nicht näher zu beschreibende andere Beschaffenheit bekommt, wodurch das ehemalige Wasserathmungsorgan der Form nach Kieme bleibt, in der That aber Kieme und Lunge zugleich oder ausschließlich Lunge geworden ist. Auch den umgekehrten Fall haben wir oben schon kennen gelernt (S. 246), wo verschiedene Arten der luftathmenden Gattung Limnaea sich ohne merkliche Umänderung ihrer Lungenhöhle der Wasserathmung angepaßt hatten. Erst im anderen Falle, der viel schwieriger ist, gesellt sich zur physiologischen Anpassung auch eine morphologische, das heißt auch die Gestalt und den gröberen, in die Augen fallenden Bau betreffende. Ueberhaupt aber darf man sich in der Lamarck-Darwin'schen Anschauung nicht durch diejenigen Querfragen beirren lassen, welche sich auf Dinge beziehen, welche man vorläufig mittels jener Annahme nicht erklären kann, sondern man muß sich an die Thatsachen halten, welche dadurch auf ihren Grund und Zusammenhang zurückgeführt werden.


Laich der Uferschnecke (Litorina litorea). Vergrößert.
Laich der Uferschnecke (Litorina litorea). Vergrößert.

Die Uferschnecken sprechen also, was die Athmung und deren Organe betrifft, gerade für die außerordentliche Anpassungsfähigkeit derselben. Auf die Frage aber, warum die Litorinen nicht auch leichter geworden und ihre Augen nicht allmählich auf die Spitzen der Fühler gestiegen, antworten wir ganz ruhig, daß wir das nicht wissen, daß wir aber in diesem Nichtgeschehensein durchaus keinen erheblichen Einwand gegen die Umwandlungs- und Abstammungshypothesen erblicken.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 261-262.
Lizenz:
Kategorien: