Leptodora hyalina

[48] Wenn wir, auf das Verhältnis der Schale zum Körper Rücksicht nehmend, oben einige Gattungen in dieser Hinsicht »reducirt« nannten, so ist dieser Ausdruck vielleicht nicht gut gewählt. Die Daphniden mit der Descendenzlehre messend, wird man vielmehr das Richtige treffen, wenn man die Formen mit kleiner, »reducirter« Schale als diejenigen ansieht, welche die Aehnlichkeit mit ihren Vorfahren am getreuesten bewahrt haben. Hierin bestärkt uns die Leibesbeschaffenheit einer der schönsten und ausgezeichnetsten Daphniden, der Leptodora hyalina, welche, oberflächlich schon seit längerer Zeit bekannt, neuerdings durch Weißmann im Bodensee und in den italienischen Seen gewissermaßen zum zweitenmale entdeckt wurde.

Das einige Millimeter lange Thierchen ist, ganz entgegengesetzt den anderen Daphniden, schlank und gestreckt, zeigt eine deutliche Gliederung in Kopf, Brust und Leib, und der hintere, schildförmige Theil der sonst den Hinterkörper mehr oder minder vollständig bergenden Schale läßt die letzten hier ausgebildeten Hinterleibsabschnitte frei; die seitlich gestreckten äußeren Fühlhörner charakterisiren sich durch ihre Muskulatur und den Besatz mit Fiederborsten als Rücken; die nach vorn gestreckten Beine bilden einen Fangapparat. Da uns innerhalb der Klasse der Krebse, wie in den anderen Thierklassen, zahlreiche Beispiele zu dem sicheren Schlusse führen, daß das Zurücktreten der Körpergliederung eine im Laufe der Zeiten eingetretene Umwandlung bedeutet, so wird Weißmann Recht haben, wenn er die gegliederte schlanke Gestalt der Leptodora für ein konservirtes [48] Erbtheil der Vorfahren hält. Das Thierchen nimmt daher ein besonderes Interesse in Anspruch. Ueber Vorkommen und Lebensweise hören wir Weißmann:

»Obgleich erst von wenigen Forschern gesehen, scheint Leptodora hyalina doch ein sehr weites Verbreitungsgebiet zu besitzen und da, wo sie vorkommt, auch in Menge zu leben.


Leptodora hyalina. 12mal vergrößert.
Leptodora hyalina. 12mal vergrößert.

Zwar kann sie, als vom Raube lebend, niemals in solchen Massen auftreten wie die Thiere, von welchen sie sich ernährt, hauptsächlich also Cyclopiden, doch führt sie schon P. E. Müller als häufig an, und ich selbst habe zwar manchmal vergeblich nach ihr gefischt, dafür aber auch unter günstigeren Verhältnissen über hundert Individuen in Zeit von ein bis zwei Stunden erhalten. Ich fischte meistens dicht unter der Oberfläche mit dem feinen Netze und halte die Ansicht von Müller, nach welcher sie überhaupt niemals in große Tiefen hinabsteigen soll, für richtig und zwar deshalb, weil ihre geringe Ruderkraft eine so weite Reise als schwer ausführbar erscheinen läßt und jedenfalls nicht täglich zurückgelegt werden könnte. Dies müßte aber der Fall sein, wenn die Thiere, sobald sie von der Oberfläche verschwinden, in große Tiefen hinabstiegen; denn ich fand, daß sie während des Tages nur ausnahmsweise an der Oberfläche bleiben, nachts hingegen immer dort anzutreffen sind. Stärkeres Licht meiden sie offenbar, und bei hellem Sonnenscheine kann man sicher sein, kein einziges Individuum an der Oberfläche zu finden. Auch bei Vollmond hatte ich regelmäßig nur eine schlechte Beute, die beste bei trübem Wetter oder in dunklen Nächten.

Uebrigens könnte diese Lichtscheu auch nur scheinbar sein, insofern die Cyclopiden (s. unten Spaltfüßer), von denen die Leptodora lebt, ganz dieselben Eigenthümlichkeiten im Auf- und Niedersteigen zeigen, und es also denkbar wäre, daß diese empfindlich gegen Licht wären und die Leptodora ihnen nur nachzöge. Daß Cyclopiden sehr stark durch Licht beeinflußt werden, läßt sich im Aquarium leicht feststellen, indem sich die Thierchen stets da sammeln, wo das Licht einfällt oder an sich einen starken Lichtreflex bildet. Direktes Sonnenlicht und zu scharfes diffuses Licht scheinen sie zu meiden.

Bei Leptodora habe ich ein so auffallendes Suchen des Lichtes nicht bemerkt, ebensowenig das Gegentheil.

P. E. Müller hat bereits die Cladoceren nach ihrem Aufenthalte in zwei Gruppen getheilt: pelagische und Uferformen; Leptodora gehört zu der ersten Gruppe, sie ist ihrem ganzen Körperbaue nach auf das Schwimmen in reinem, von Pflanzen freiem Wasser angewiesen, und demgemäß findet [49] sie sich nicht in der Nähe des Ufers, sondern – wenigstens im Bodensee – erst dort, wo der See tiefer wird. Sie rudert nur mit den Antennen und zwar ruckweise, wie alle Daphniden, auch bringt sie sich nur langsam vom Flecke, und ihre große Durchsichtigkeit und deshalb fast vollständige Unsichtbarkeit mag für sie wohl Existenzbedingung sein, da sie zur Jagd auf Beute viel zu schwerfällig ist. Sie lauert auf ihre Beute und hat in dieser Hinsicht viel Aehnlichkeit mit der durch ihre Durchsichtigkeit berühmten Larve von Corethra plumicornis (einer Mücke), welche jedoch im Punkte der Unsichtbarkeit von ihr noch bei weitem übertroffen wird.

Gerade wie die Corethra-Larve, so liegt auch die Leptodora horizontal ausgestreckt ruhig im Wasser und harrt, bis ihr die Beute zwischen die aufgesperrten Fangbeine geräth. Während bei Corethra besondere hydrostatische Apparate, die großen Tracheenblasen, dem Körper die horizontale Lage sichern, ist bei Leptodora der Magendarm so weit nach hinten gerückt, daß er dem schweren Thorax und Kopf das Gleichgewicht hält.

Wie sehr das Thier nur auf das Schwimmen angewiesen ist, sieht man am besten angefangenen Individuen. Sobald Algen oder Schmutztheile im Wasser sind, hängen sie sich an die Ruderarme der Leptodoren, die dann oft eine ganze Schleppe nach sich ziehen und dadurch am Schwimmen sehr gehindert werden. Trotzdem aber versuchen sie nie, sich der Füße zum Laufen oder Klettern zu bedienen und nur im äußersten Nothfalle, wenn sie irgend wo festhängen, suchen sie sich mit dem Abdomen vorwärts zu helfen, indem sie die Spitze desselben bis unter den Kopf schieben, dort festhaken und dann gerade strecken.

Nur in ganz reinem Wasser dauern die Thierchen aus; deshalb gelingt es auch nicht, dieselben länger als vierzehn Tage im Aquarium zu halten, und auch während dieser Zeit pflegen sie zur Untersuchung unbrauchbar zu werden, weil Massen von Vorticellen sich an sie setzen und ihre Durchsichtigkeit zerstören. Nicht selten auch werden sie von einem Pilze befallen – von Saprolegnia – der durch die Haut nach innen wuchert und allmählich den Tod herbeiführt.«

Gefunden wurde Leptodora bis jetzt außer im Boden- und Genfer See auch in den dänischen und schwedischen Seen, bei Cahne und, um vollständig zu sein, im Bremer Stadtgraben. In Amerika kennt man sie aus dem Oberen See.

Nur wenige das Meer bewohnende Cladoceren sind bisher bekannt geworden.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 48-50.
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