1. Sippe: Brüllaffen (Mycetes)

[176] Okens Ausspruch, daß die größten Thiere innerhalb einer Familie oder Sippe auch immer die vollkommensten seien, findet wie bei den altweltlichen Affen, so auch bei den neuweltlichen seine Bestätigung. Den Brüllaffen (Mycetes) wird in der dritten Familie unserer Ordnung der erste Rang eingeräumt. Ihr Körper ist schlank, aber doch gedrungener als bei den übrigen Sippen der neuweltlichen Affen; die Gliedmaßen sind gleichmäßig entwickelt, die Hände fünffingerig; der Kopf ist groß und die Schnauze vorstehend, die Behaarung dicht und am Kinn bartartig verlängert. Als eigenthümliches Merkmal der Brüllaffen muß vor allem der kropfartig verdickte Kehlkopf angesehen werden. Alexander von Humboldt war der erste Naturforscher, welcher dieses Werkzeug zergliederte. »Während die kleinen amerikanischen Affen«, sagt er, »die wie Sperlinge pfeifen, ein einfaches dünnes Zungenbein haben, liegt die Zunge bei den großen Affen auf einer ausgedehnten Knochentrommel. Ihr oberer Kehlkopf hat sechs Taschen, in denen sich die Stimme fängt, und wovon zwei taubennestförmige große Aehnlichkeit mit dem unteren Kehlkopfe der Vögel haben. Der dem Brüllaffen eigene klägliche Ton entsteht, wenn die Luft gewaltsam in die Knochentrommel einströmt. Wenn man bedenkt, wie groß die Knochenschachtel ist, wundert man sich nicht mehr über die Stärke und den Umfang der Stimme dieser Thiere, welche ihren Namen mit vollem Rechte tragen.« Der Schwanz der Brüllaffen ist sehr lang, am hinteren Ende kahl, nerven- und gefäßreich, auch sehr muskelkräftig und daher zu einem vollkommenen Greifwerkzeuge gestaltet.

Weit verbreitet, bewohnen die Brüllaffen fast alle Länder und Gegenden Südamerika's. Dichte, hochstämmige und feuchte Wälder bilden ihren bevorzugten Aufenthalt; in den Steppen finden sie sich nur da, wo die einzelnen Baumgruppen zu kleinen Wäldern sich vergrößert haben und Wasser in der Nähe ist. Trockene Gegenden meiden sie gänzlich, nicht aber auch kühlere Landstriche. So gibt es in den südlicheren Ländern Amerika's Gegenden, in denen der schon merkliche Unterschied zwischen Sommer und Winter noch gesteigert wird durch die Verschiedenheit in der Hebung über den Meeresspiegel. Hier stellen sich, laut Hensel, im Winter heftige Nachtfröste ein, und am Morgen ist der Wald weiß bereift; die Pfützen frieren so fest zu, daß das Eis die schweren Bisamenten der Ansiedler trägt, und man selbst mit faustgroßen Steinen auf dasselbe werfen kann, ohne es zu zerbrechen. »Freilich hält eine solche Kälte nicht lange an, und die warme Mittagssonne zerstört wieder die Wirkungen der Nacht. Empfindlicher als diese Fröste sind die kalten [176] Winterregen, welche nahe am Gefrierpunkte oft mehrere Tage, ausnahmsweise auch Wochen, anhalten und von einem durchdringend kalten Südwinde begleitet werden. Während das zahme Vieh, wenn es nicht gut genährt ist, diesen Witterungseinflüssen leicht unterliegt, befindet sich die wilde Thierwelt ganz wohl dabei; und sobald an heiteren Tagen die Sonne zur Herrschaft gelangt, ertönt auch wieder die Stimme des Brüllaffen als Zeichen seines ungestörten Wohlbefindens. Wenn man an solchen Tagen des Morgens, sobald die Wärme der Sonnenstrahlen anfängt sich bemerkbar zu machen, einen erhöhten Standpunkt gewinnt, so daß man das ganze Blättermeer eines Gebirgsthales vor sich ausgebreitet sieht, entdeckt man auf demselben auch mit unbewaffnetem Auge hier und da rothleuchtende Punkte: die alten Männchen der Brüllaffen, welche die trockenen Gipfel der höchsten Berge erstiegen haben und hier, behaglich in einer Gabel oder auf dichtem Zweige ausgestreckt, ihren Pelz den wärmenden Strahlen der Sonne darbieten. Das Aeußerste erreicht die Winterkälte von Rio-Grande-do-Sul auf der Hochebene der Sierra, wo keine Orange mehr gedeiht und die Wirkungen der Winterstürme, welche aus den Pampas und von Patagonien her wehen, besonders hart empfunden werden. Hier fällt nicht selten Schnee in dichten Lagen und bleibt mehrere Tage liegen; niemals aber hat man bemerkt, daß die Kälte den Brüllaffen Abbruch gethan hätte.«

In unseren Lehrbüchern werden gegen ein Dutzend Arten von Brüllaffen aufgeführt; doch ist jetzt ausgemacht, daß gerade diese Thiere vielfach abändern, und daher so gut als entschieden, daß alle auf wenige Arten zurückgeführt werden müssen.

Unserer Lebensschilderung liegen die Beobachtungen zu Grunde, welche Alexander von Humboldt, Prinz Max von Neuwied, Rengger, Schomburgk und Hensel über die Brüllaffen gesammelt haben. Nach Ansicht der Erstgenannten beziehen sich ihre Beschreibungen auf zwei verschiedene Arten: den Aluaten und den Caraya. »Die Brüllaffen von Rio-Grande-do-Sul«, sagt Hensel, »haben einen außerordentlich dicken Pelz, namentlich auf der Oberseite des Kopfes und Körpers, während die Bauchseite und die Innenseite der Schenkel nur sparsam behaart ist; das Haarkleid schien im Sommer und Winter gleich stark zu sein, wenigstens ist mir hier, auch bei anderen Thieren, kein Unterschied zwischen Sommer- und Winterbälgen aufgefallen. Doch muß ich bemerken, daß ich im Nationalmuseum zu Rio-de-Janeiro mehrere ausgestopfte Brüllaffen von Paraguay, schwarze sowohl wie rothe, gesehen habe, welche sich durch ein kurzes, dünnes und glatt anliegendes Haarkleid auszeichnen, während andere aus der Provinz Santa Catharina denen von Rio-Grande-do-Sul glichen. Die Farbe der Thiere ist eigenthümlich und bei beiden Geschlechtern verschieden: die Männchen sind roth und gleichen in der Farbe genau unserem Eichhörnchen; gewöhnlich ist die Oberseite, namentlich der Oberkopf, und das Kreuz heller, zuweilen gelbroth, in seltenen Fällen ist sogar das ganze Thier mehr gelb als roth; manche Stücke sind rothbraun bis schwarzbraun. Die immer viel kleineren Weibchen sind schwarzbraun; doch zeigen auf der Oberseite die Spitzen der Haare citronengelblichen oder bräunlichgelben Schein. Nicht sehr selten sind sie etwas röthlich, ja zuweilen so roth, wie die der Männchen, so daß man erst durch die Besichtigung des getödteten Thieres sich von seinem Geschlechte überzeugen kann. Sieht man einen Trupp hoch oben auf dem Wipfel eines Baumes sitzen, so erscheinen im allgemeinen die Männchen roth, die Weibchen schwarz; die Jungen beiderlei Geschlechts haben die Farbe der erwachsenen Weibchen. Leicht möglich ist es, daß bei den klimatischen Verschiedenheiten innerhalb des Verbreitungskreises des Brüllaffen auch mancherlei Veränderungen in der Farbe desselben auftreten werden; ja schon in einem verhältnismäßig kleinen Raume scheinen sich Farbenunterschiede bemerkbar zu machen. So glaube ich beobachtet zu haben, daß in den feuchten Wäldern, an den Flußufern der Tiefwälder unterhalb des Urwaldgürtels, die rothen Weibchen viel häufiger waren als in den Bergen, und daß bei diesem Geschlechte die Spitzen der Haare, namentlich der Oberseite, um so mehr eine bräunlichgelbe Färbung annehmen, in je höherem und kälterem Klima die Thiere leben. Es wäre durchaus nicht auffallend, wenn die rothe Farbe beider Geschlechter in den feuchten Urwäldern [177] Nordbrasiliens dunkler würde und schließlich ins Schwarze überginge.« An einer anderen Stelle bemerkt derselbe Naturforscher, daß ihn die Vergleichung der Schädel doch von der Verschiedenheit und Selbständigkeit mehrerer Arten überzeugt habe.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. CLXXVI176-CLXXVIII178.
Lizenz:
Kategorien: