4. Sippe: Schlankaffen (Semnopithecus)

[101] Wie genau sich das eigentliche Gepräge eines Erdtheils oder Landes in seiner Thierwelt wiederspiegelt, können wir unter tausend anderen Fällen auch bei Betrachtung verschiedener Affengruppen bemerken. Die Schlankaffen (Semnopithecus) und die Stummelaffen (Colobus) ähneln sich außerordentlich und unterscheiden sich gleichwohl wieder wesentlich, gleichsam als müßten sie beweisen, daß die Heimat der einen Asien, die der anderen Afrika ist. Hier wie dort spricht sich der gleiche Grundzug der Ausbildung des Thieres aus; aber dennoch behauptet jeder Erdtheil sein eigenthümliches Gepräge. Eine nachherige Vergleichung beider Sippen mag diese Wahrheit verständlich machen; jetzt liegt es zunächst ob, die einen kennen zu lernen.

Die Schlankaffen sind, wie ihr Name andeutet, schlanke und leichtgebaute Affen mit langen, feinen Gliedmaßen und sehr langem Schwanze, kleinem hohen Kopfe, nacktem Gesichte und verkürzter Schnauze ohne Backentaschen. Ihre Gesäßschwielen sind noch sehr klein. Ihr Zahnbau ähnelt dem der Makaken und Paviane (welche wir später kennen lernen werden), weil sich am hintersten unteren Backenzahne noch ein besonderer Höcker findet; ihr Knochenbau erinnert wegen seiner schlanken Formen an das Gerippe der Gibbons. Die Hände haben lange Finger; aber der Daumen der Vorderhände ist bereits verkürzt oder verkümmert und zum Greifen unbrauchbar geworden. Die Behaarung ist wundervoll fein, ihre Färbung stets ansprechend, bei einer Art höchst eigenthümlich; die Haare verlängern sich am Kopfe oft bedeutend. Höchst merkwürdig ist der Bau des Magens, weil er wegen seiner Einschnürungen und hierdurch entstandenen Abtheilungen entfernt an den Magen der Wiederkäuer und näher an den der Känguru's erinnert. Nach Duveroy's und Owens Untersuchungen wird er durch zwei Einschnürungen in drei Theile getheilt, deren mittlerer wiederum Unterabtheilungen in doppelter Reihe zeigt. Der Magen erhält hierdurch die größte Aehnlichkeit mit einem Grimmdarme, zumal er wie ein solcher mit deutlich hervortretenden Muskelbändern versehen ist. Ein Kehlsack von verschiedener Größe ist bei sämmtlichen Arten vorhanden.

Das Festland Südasiens, Ceilon und die Eilande des indischen Inselmeeres bilden die Heimat der Schlankaffen. Hier leben sie in mehr oder minder zahlreichen Trupps in den Waldungen, am liebsten in der Nähe von Flußufern, nicht minder gern aber auch in der Nachbarschaft der Dörfer [101] und Pflanzungen, und führen, weil sie fast überall geschont werden, ein ungemein behagliches Leben. Um mit kurzen Worten ein allgemeines Bild ihres Freilebens zu geben, will ich der Einzelschilderung hervorragender Arten einige Bemerkungen vorausschicken und mich dabei auf die Mittheilungen von Tennent und Wallace stützen.

Wenn man den Schlankaffen in ihren heimischen Waldungen begegnet, sieht man sie in der Regel in Gesellschaft von zwanzig oder dreißig ihrer Art, in den meisten Fällen eifrig beschäftigt, sich Aehren und Knospen zu suchen. Aeußerst selten bemerkt man sie auf dem Boden, es sei denn, daß sie herabgefallene Früchte ihrer Lieblingsbäume dort unten aufsuchen wollten. Vor den Eingeborenen fürchten sie sich nicht im geringsten, legen vielmehr die größte Sorglosigkeit an den Tag; der fremdartig gekleidete Europäer dagegen wird mehrere Minuten lang angestarrt und hierauf sobald wie möglich verlassen. In ähnlicher Weise erregt die Gegenwart eines Hundes ihre Neugier; anstatt aber dessen Bewegungen zu beobachten, pflegen sie stets durch Geschrei usw. sich hervorzuthun und zu verrathen. In Furcht gesetzt, verbergen sie sich oft im Gezweige der Bäume, und wissen dies in einer Art und Weise zu bewerkstelligen, daß sich eine Gesellschaft, welche sich vielleicht auf einer Palmyrapalme gütlich that, in der kürzesten Zeit unsichtbar macht. Trauen sie dem Frieden nicht, so flüchten sie, und zwar mit einer Schnelligkeit, Gewandtheit und Sprungfertigkeit, welche innerhalb ihrer Familie kaum erreicht, geschweige denn überboten wird. Sie springen ungeheuer weit von den Aesten eines Baumes auf die etwas tieferen eines anderen, regelmäßig so, daß der Zweig, auf welchem sie fußten, durch ihr Aufspringen tief hinabgebogen wird und sie beim Zurückschnellen wieder in die Höhe schleudert; sie sind aber auch im Stande, im Sprunge noch die Richtung zu ändern, um nöthigenfalls einen anderen passenderen Zweig zu ergreifen und sich weiter fortzuhelfen. Es ist, wie Wallace bemerkt, sehr unterhaltend, zu sehen, wie dem Führer, welcher einen kühnen Sprung wagte, die anderen mit größerer oder geringerer Hast folgen; und nicht selten kommt es dann vor, daß einer oder zwei der letzten gar nicht zum Sprunge sich entschließen können, bis die anderen außer Sicht sind. Dann werfen sie sich förmlich verzweifelt und aus Furcht, allein gelassen zu werden, in die Luft, durchbrechen die schwachen Zweige und stürzen oft zu Boden. Da, wo sie ungestört ihr Wesen treiben dürfen, werden sie zudringlich, erscheinen unmittelbar auf oder vor den Häusern und richten mancherlei Schaden an; ja es kommt sogar vor, daß sie Kindern gefährlich werden. So wurde, wie Tennent erzählt, das Kind eines europäischen Geistlichen, welches die leichtsinnige Amme vor das Haus hingesetzt hatte, von Schlankaffen überfallen und derartig gequält und gebissen, daß es den erlittenen Mishandlungen erlag. Die Nahrung besteht aus den verschiedensten Pflanzentheilen, Früchten aller Art, so weit sie solche öffnen können, Knospen, Blättern und Blüten. Insbesondere nähren sie sich, laut Tennent, von Paradiesfeigen und Bananen. Doch scheinen sie gewisse Blumen und Blüten, beispielsweise die des rothen Hibiscus, solchen Früchten noch vorzuziehen, und vertilgen außerordentliche Mengen davon – ein Wink für diejenigen, welche derartige Affen in Gefangenschaft halten wollen.

Die Singalesen haben die Meinung, daß die Ueberbleibsel eines Affen niemals im Walde gefunden würden. »Wer eine weiße Krähe, das Nest eines Reisvogels, eine gerade Kokosnußpalme oder einen todten Affen gesehen hat«, sagen sie, »ist sicher, ewig zu leben.« Dieser Volksglaube stammt unzweifelhaft von Indien her, weil dort einer der hervorragendsten Schlankaffen göttliche Ehre genießt, und man allgemein der Ueberzeugung ist, daß Jemand, welcher auf dem Grabe eines solchen Affen oder auch nur auf seinem Todesplatze ruhen oder rasten wollte, sterben müßte, ja daß selbst noch die vergrabenen Knochen Unheil stiften könnten. Aus diesem Grunde läuft Jeder, welcher ein Haus bauen will, zu den Zauberern oder Pfaffen, zu deutsch Betrügern, seines Volkes und versichert sich durch ihre »Kunst«, daß auf dem für das Haus gewählten Platze niemals ein derartiges Unglück geschehen sei.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. CI101-CII102.
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