Kahau (Semnopithecus nasicus)

[109] Von den eigentlichen Schlankaffen trennt man gegenwärtig eine Art, welche sich im hohen Grade auszeichnet, und zwar durch ihre Nase: den Kahau oder Nasenaffen (Semnopithecus nasicus, Nasalis larvatus, Simia nasalis, Simia rostrata). Im allgemeinen hat dieses absonderliche Geschöpf noch ganz den Bau der Schlankaffen; die vorspringende verzerrte Menschennase aber, welche wie ein Rüssel beweglich ist und vorgeschoben oder zurückgezogen werden kann, verleiht ihm etwas im hohen Grade Eigenthümliches. Der Leib ist schlank, der Schwanz sehr lang, die Gliedmaßen sind fast von gleicher Länge, die Vorder- und Hinterhände fünfzehig, die Backentaschen fehlen, aber die Gesäßschwielen sind vorhanden. Die Nase hängt hakenförmig über die Oberlippe herab, ist in der Mitte ziemlich breit, an ihrem äußeren Ende zugespitzt und längs ihres Rückens mit einer leichten Furche versehen; die Nasenlöcher sind sehr groß und können noch bedeutend ausgedehnt werden. Bei jungen Thieren ist das hier so merkwürdig gebildete Sinnwerkzeug noch klein und stumpf, und erst bei alten erreicht es seine bedeutende Größe. Die Behaarung ist reichlich und weich; am Scheitel sind die Haare kurz und dicht, an den Seiten des Gesichts und am Hinterhaupte länger, um den Hals bilden sie eine Art von Kragen. An dem Scheitel, dem Hinterkopfe und in der Schultergegend sind sie lebhaft braunroth, auf dem Rücken und der oberen Hälfte der Seiten fahlgelb, dunkelbraun gewellt, an der Brust und dem Obertheile des Bauches lichtröthlichgelb gefärbt; in der Kreuzgegend findet sich ein scharf abgegrenzter Fleck von graulichweißer Farbe, dessen Spitze nach der Schwanzwurzel zu gerichtet ist; die Gliedmaßen sehen in der oberen Hälfte gelblichroth, in der unteren, ebenso wie der Schwanz, aschgrau, die nackten Innenflächen der Hände und die Gesäßschwielen graulichschwarz aus. So zeigt auch dieser Affe eine sehr lebhafte Gesammtfärbung und beweist dadurch seine enge Verwandtschaft mit den übrigen Schlankaffen. Erwachsene Männchen des Kahau erreichen eine Höhe von etwa 55 Centim.; ihr Leib ist 70 Centim. und der Schwanz etwas darüber lang. Die Weibchen bleiben kleiner, sollen jedoch schon vor ihrem vollendeten Wachsthume fortpflanzungsfähig sein.

Der Kahau lebt gesellig auf Borneo. Ueber sein Freileben wissen wir wenig; zumal in der Neuzeit ist nichts berichtet worden. Wallace, welcher Gelegenheit hatte, unseren Affen in seinen heimischen Wäldern zu beobachten, erwähnt seiner nur nebenbei: »An den Ufern des Flusses Simunjon hielten sich sehr viele Affen auf, unter anderen der merkwürdige Nasenaffe, welcher so groß ist wie ein dreijähriges Kind, einen sehr langen Schwanz und eine fleischige Nase, länger als die des dicknasigsten Menschen, hat.« Wurmb bemerkt ungefähr Folgendes. Des Morgens und Abends sammeln sich zahlreiche Scharen auf den Bäumen und an den Flußufern und erheben dann oft[109] ein Geheul, welches dem Worte Kahau sehr ähnlich klingt und ihnen den eigenthümlichen Namen verschafft hat. Sie sind schnell und gewandt und besitzen eine ungeheuere Fertigkeit im Springen und Klettern. Ihre geistigen Eigenschaften sind wenig bekannt, doch behauptet man, daß die Thiere sehr boshaft, wild und tückisch seien und sich nicht wohl zur Zähmung eigneten. Man sagt, daß sie, wenn sie überrascht werden, sich auf den Bäumen verbergen, aber mit großem Muthe sich vertheidigen, wenn sie angegriffen werden. Wirklich spaßhaft ist die Behauptung der Eingeborenen, daß die Kahaus beim Springen immer ihre Nase mit den Händen bedecken sollen, um sie vor unangenehmen Zusammenstößen mit dem Gezweige zu schützen.


Kahau oder Nasenaffe (Semnopithecus nasalis). 1/10 natürl. Größe.
Kahau oder Nasenaffe (Semnopithecus nasalis). 1/10 natürl. Größe.

Ihre Nahrung kennt man nicht, darf aber vermuthen, daß sie auch keine andere als die der Schlankaffen ist. Die Dajaks sollen fleißig Jagd auf die Nasenaffen machen, um ihr Fleisch zu erhalten, welches sie als wohlschmeckend schildern. Diese Leute nennen die Thiere übrigens nicht Kahau, sondern Bantangan. – »Die Nasenaffen«, schreibt mir Haßkarl, »welche in den Jahren 1841 und 1842 im Pflanzengarten zu Buitenzorg auf Java anlangten und dort gepflegt wurden, starben sehr bald, hatten aber freilich auch nicht genügenden Raum zu ausgiebiger Bewegung.« Ob dies die einzige Ursache ihres Todes war, steht dahin; jedenfalls ist durch Haßkarls Angabe bewiesen, daß Kahaus geraume Zeit im Käfige sich halten lassen, und damit die Behauptung des Gegentheils widerlegt.


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. CIX109-CX110.
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