Elfte Ordnung: Die Wiederkäuer[56] (Ruminantia).

Die Wiederkäuer oder Zweihufer sind weit verschiedene und doch auch wieder innig verwandte, gehörnte oder ungehörnte, schöngestaltige oder plump gebaute, anmuthige oder häßliche Säuger von außerordentlich schwankender Größe. Im allgemeinen kann man folgende Merkmale angeben: der Hals ist lang und sehr beweglich, der Kopf an der Stirne ansehnlich verbreitert und oft durch Hörner und Geweihe, durch große, lebhafte, nicht selten ungewöhnlich schöne Augen und durch wohlgestaltete, aufgerichtete Ohren geziert; die Lippen sind beweglich, oft nackt und fast immer schnurren- oder borstenlos; der Schwanz erreicht nur selten die Ferse, sondern verkürzt sich in den meisten Fällen; die Beine zeichnen sich durch Verlängerung der Mittelhand und des Mittelfußes aus; die Füße sind zweizehig und häufig mit Afterklauen versehen. Ein kurzes, dichtes, enganliegendes und weiches Haarkleid, welches sich an Hals und Kinn, auf dem Rücken und an der Schwanzspitze zuweilen mähnen- und quastenartig verlängert, deckt den Körper. Niemals ist es borstig, oft aber überaus fein, wollig und kraus. Die Färbung ist so mannigfaltig, als sie überhaupt sein kann. Sehr übereinstimmend ist der Bau der Zähne und des Gerippes. Sechs bis acht Schneidezähne in der untern Kinnlade, keiner oder nur selten zwei in der obern, kein oder nur ein Eckzahn in jedem Kiefer, und drei bis sieben Backenzähne in der obern, oder vier bis sechs Backenzähne in der untern bilden das Gebiß. Die Schneidezähne sind meist schaufelförmig und scharfschneidig; die der obern Kinnlade haben immer eine eckzahnartige Gestalt; die Eckzähne sind kegelförmig und ragen nur bei wenigen aus dem Munde hervor; die Backenzähne bestehen aus zwei Paaren halbmondförmiger Pfeiler, auf deren Oberfläche Schmelzfalten sich erheben. Der Schädel ist gestreckt und nach der Schnauzenspitze hin verschmälert; die Augenhöhlen sind durch eine vom Stirnbein und dem Jochbein gemeinschaftlich gebildete Knochenbrücke von den Schläfengruben geschieden; die innere Schädelhöhle ist von geringem Umfange. In der Wirbelsäule fallen die ungewöhnlich langen, schmalen, beweglichen Halswirbel auf. Die Anzahl der rippentragenden Wirbel schwankt zwischen zwölf und funfzehn, die der rippenlosen zwischen vier und sieben, die der Kreuzwirbel zwischen vier und sechs, die der Schwanzwirbel zwischen sechs und zwanzig; doch herrschen fast überall die mittleren Zahlen vor. Die Rippen sind sehr breit; das Schulterblatt ist wenigstens doppelt so hoch als breit, der Oberarm kurz und dick, die Handwurzel schmal und hoch. Mittelhand und Mittelfuß bestehen aus je einem stark verlängerten Knochen, welcher sich ursprünglich aus zweien zusammensetzte. Bei allen Wiederkäuern ohne Ausnahme sind nur zwei Zehen, die dritte und vierte, vollkommen entwickelt. Der Mund zeichnet sich durch starke Lippenmuskeln und innen durch zahlreiche Warzen aus; die Speicheldrüsen sind ansehnlich groß; der [56] Magen besteht aus vier, mindestens drei verschiedenen Theilen: dem Pansen oder Wanst, dem Netzmagen oder der Haube, Mütze, dem Faltenblättermagen oder Buche, Kalender, Psalter und Löser und dem Lab- oder Fett- und Käsemagen. Ersterer steht mit der Speiseröhre, letzterer mit dem Darmschlauche in Verbindung. Der Pansen, welcher durch ein Muskelband in zwei Abtheilungen getrennt wird, nimmt das grob zerkaute Futter auf und stößt es in kleine Mengen in den Netzmagen hinüber, dessen gitterartige Falten es vorverdauen und in Kügelchen formen, welche sodann durch Aufstoßen wieder in den Mund hinauf gebracht, hier mittels der Mahlzähne verarbeitet, gründlich eingespeichelt und sodann zwischen zwei, eine Rinne bildenden Falten der Speiseröhre in den Blättermagen hinabgesandt und von diesem endlich dem Labmagen zugeführt werden. Den Kamelen und Zwergmoschusthieren fehlt die dritte Magenabtheilung. Der Blinddarm ist sehr kurz, eine Gallenblase bei den Hirschen nicht vorhanden.

Nicht unwichtig zur Gruppirung und Bestimmung der Arten sind die Gehörne und Geweihe, welche die Wiederkäuer tragen. Man unterscheidet zunächst zwei größere Gruppen: die scheidenhörnigen und die geweihtragenden Zweihufer. Unter Scheidenhörnern oder Hörnern schlechthin versteht man diejenigen Gebilde aus Hornmasse, welche, auf einer knochigen Unterlage der sich fortsetzenden Stirnbeine ruhend, eigentlich nichts anderes sind als eine hornige Schale, und welche niemals erneuert werden, sondern bei fortgesetztem Wachsthume nur an Größe zunehmen; Geweihe dagegen heißen Hörner, welche auf verhältnismäßig kurzen Erhöhungen der Stirnbeine sitzen, durchaus aus fester Knochenmasse bestehen und mit zunehmendem Alter bis zu einem gewissen Grade sich mehr und mehr verästeln. Die Geweihe werden alljährlich abgeworfen und nach Verlauf von einigen Monaten durch neue ersetzt. In der Regel tragen sie bloß die männlichen Thiere, während die Gehörne meist beiden Geschlechtern gemeinsam zu sein pflegen. Die Hufe ändern in ihrer Gestalt und Größe vielfach ab.

Die Wiederkäuer bewohnen mit Ausnahme Neuhollands alle Erdtheile. Eine regelmäßige Verbreitung der Hauptgruppen läßt sich nicht verkennen. Am weitesten verbreitet sind die Stiere und Hirsche, auf den engsten Kreis beschränkt die Girafen und Moschusthiere; Antilopen und Hirsche gehören allen in Betracht kommenden Erdtheilen an; die Böcke, Schafe und Stiere fehlen in Südamerika; die Moschusthiere sind nur in Asien und auf den südasiatischen Inseln heimisch.

Fast alle Wiederkäuer sind scheue, flüchtige, friedliche, leiblich sehr wohl ausgerüstete, geistig beschränkte Thiere. Viele leben in Herden, alle in Gesellschaften. Die einen bewohnen das Gebirge, die anderen die Ebenen; keine einzige Art haust eigentlich im Wasser, wohl aber ziehen einige Sumpfniederungen den trockenen Ebenen vor. Ihre Nahrung besteht ausschließlich in Pflanzen. Sie lieben Gras, Kräuter, Blätter, junge Triebe und Wurzeln, einzelne auch Körner, andere Flechten. Das Weibchen wirft gewöhnlich nur ein Junges, seltener deren zwei und bloß ausnahmsweise drei. Die meisten Wiederkäuer nützen, gezähmt wie im wilden Zustande, mehr als sie schaden, wenn auch einzelne Arten da, wo die Bewirtschaftung des Bodens eine gewisse Höhe erreicht hat, nicht mehr geduldet werden können. Von den wildlebenden wie von den zahmen werden Fleisch und Fell, Horn und Haar aufs vielseitigste verwendet: die Wiederkäuer liefern, wie bekannt, den größten Theil unserer Kleidung. Im gezähmten Zustande zeigen sie sich zwar nicht klug, aber folgsam, geduldig und genügsam und werden deshalb dem Menschen geradezu unentbehrlich. Bloß von den drei Familien der Moschusthiere, Girafen und Antilopen ist bis jetzt noch keine Art als Hausthier verwendet worden; von den übrigen hat sich der Mensch das eine oder das andere Mitglied zu seinem Diener und Sklaven gemacht. Alle wildlebenden bilden einen Hauptgegenstand der Jagd und sind deshalb wahrhaft königlicher Ehren theilhaftig.

Die Wiederkäuer erschienen in der Tertiärzeit auf unserer Erde, und zwar so ziemlich in den noch gegenwärtig lebenden Formen, obwohl in beschränkterer Verbreitung.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 56-57.
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