Rothspießhirsch (Cervus rufus)

[173] Der Rothspießhirsch oder Guasupita (Cervus rufus, Subulo rufus, C. simplicicornis und dolichurus), die größte Art der Gruppe, übertrifft unser Reh an Schwere und erreicht fast die Größe eines Schmalthieres des Damwildes; seine Länge beträgt 1,1 Meter, die Schwanzlänge 10-11 Centimeter, die Höhe des Spießes 7 Centim., die Höhe am Widerrist 60 Centim. Der Leib ist gestreckt, der Hals kurz und schlank, der Kopf kurz, vorn sehr schmal, die Ohren sind ziemlich groß, aber nicht besonders lang, die Augen klein und lebhaft, die Thränengruben kaum bemerkbar, die Läufe hoch, schlank und äußerst zierlich gebaut. Die glatt und dicht anliegende Behaarung erinnert hinsichtlich ihrer Beschaffenheit an die unseres Rehes. An dem Kopfe und an den Läufen ist sie sehr kurz, sonst ziemlich reichlich; längs der Mitte des Vorderkopfes erhebt sie sich mähnenartig. Ihre Gesammtfärbung ist ein gelbliches Braungrau, welches auf der Gegend zwischen den Augen, Stirne und Scheitel in Dunkelbraungrau, auf der Unterseite des Halses, der Brust und dem Bauche in Grau übergeht. Die Innenseite der Läufe ist weiß, der Schwanz auf der Oberseite bräunlich gelbroth, unterseits weiß.

Die Spießhirsche bewohnen in ziemlicher Anzahl Guayana, Brasilien, Peru und Paraguay. Sie leben in Ebenen wie im Gebirge, unsere Art steigt sogar bis zu 5000 Meter über den Meeresspiegel empor. Möglicherweise findet sich dieser Hirsch auch in Mejiko. Wälder aller Art und niedere Gebüsche bilden seinen Aufenthalt. In niederen Gegenden bevorzugt er die schattigen, dichten Urwaldungen, in den Hochländern die einzeln stehenden Gebüsche; das Feld meidet er. Bei Tage liegt er ruhend im dichten Gebüsch; mit Sonnenuntergang begibt er sich an den Saum der Wälder, um dort sich zu äsen. Pflanzungen in der Nähe werden besucht und gebrandschatzt; sonst begnügt er sich mit der Aesung, welche im Walde wächst. Auf den angebauten Stellen geht er hauptsächlich die jungen Schößlinge der Melonen, den aufkeimenden Mais, den jungen Kohl und vor allem die Bohnen an. So zieht er hin und her bis zur Morgendämmerung, mit welcher er wieder in den Wald zurückkehrt.

Man trifft ihn immer einzeln und paarweise, nie aber in Rudeln an. Beide Geschlechter halten treu zusammen und leiten und führen dann auch die Jungen gemeinschaftlich. Die Rike wirft gewöhnlich nur ein Junges, meistens im December oder Januar. Das Kalb folgt der Mutter schon in den ersten drei bis fünf Tagen seines Lebens auf allen ihren Wegen nach, anfangs neben ihr hertrollend, später aber ihr vorausgehend. Droht Gefahr, so versteckt es sich im Gebüsche, und die Mutter entflieht.

Alle Spießhirscharten sollen furchtsam sein. Wenn sie zur Aesung ziehen, treten sie zuerst immer nur mit halbem Leibe aus dem Walde hervor, sehen sich nach allen Seiten um, thun einige [173] Schritte vorwärts und bleiben wieder stehen, um die Gegend auszukundschaften. Bemerken sie einen Feind in der Nähe, so fliehen sie in den Wald; ist der Gegenstand ihrer Furcht entfernter, so betrachten sie ihn erst neugierig eine Zeitlang, ehe sie die Flucht ergreifen. Ihre Bewegungen sind schnell, aber nicht ausdauernd; man kann sie daher leicht mit guten Pferden müde machen, einholen und vermittels der Wurfkugeln in seine Gewalt bekommen. Gute Hunde kommen auch dem kräftigsten Hirsche in nicht zu dichtem Walde binnen einer halben Stunde nach.


Rothspießhirsch (Cervus rufus). 1/10 natürl. Größe.
Rothspießhirsch (Cervus rufus). 1/10 natürl. Größe.

Die Landleute fangen nicht selten die Kälber, um sie zu zähmen. Man muß sie aber angebunden oder im Hofe eingeschlossen halten, weil sie sonst häufig Schaden in den Pflanzungen anrichten. So lange sie jung sind, betragen sie sich zutraulich und zahm, älter geworden, werden sie bösartig wie alle ihre Verwandten; denn nicht bloß die Hirsche, sondern auch die Thiere gehen auf den Mann. Jung eingefangene Spießhirsche halten sich anfänglich gern an ihr Haus, entfernen sich aber späterhin immer mehr von der Wohnung, und bleiben schließlich gänzlich weg, wenn sie auch ihren alten Aufenthaltsort nicht völlig vergessen. Rengger sah einen, welcher zehn Monate früher entflohen war, in seiner heimatlichen Wohnung Schutz suchen, als er von einigen Hunden verfolgt wurde. Ein Thier, welches ich geraume Zeit pflegte, war ein überaus anmuthiges, liebenswürdiges Geschöpf. Wahrscheinlich hatte es von Jugend auf in Gesellschaft des Menschen gelebt, bewies diesem wenigstens Vertrauen und Anhänglichkeit. Ich durfte es berühren, streicheln, vom Boden aufheben, wegtragen, ohne daß es auch nur einen Versuch zur Flucht, zum Widerstande machte. Ihm gespendete Liebkosungen erwiderte es durch Belecken der ihm schmeichelnden Hand oder des Gesichtes seiner Freunde. Mit anderen Hirschen vertrug es sich ausgezeichnet; ich habe es überhaupt nur als ein friedfertiges, sanftes, ja zärtliches Wesen kennen gelernt. Das rauhe Klima Norddeutschlands behagte ihm wenig, doch zeigte es sich minder frostig, als ich erwartet hatte. Regen fürchtete es nicht, ließ sich vielmehr öfters tüchtig einnässen. Dagegen suhlte es sich nie; schmutzige Feuchtigkeit schien ihm verhaßt zu sein. Scharfe Winde mied es ängstlich, und vor ihnen suchte es stets im Innern seines Stalles Schutz. Von den in seinem Gehege wachsenden Gräsern nahm es nur selten ein Hälmchen an; es bevorzugte trockene Aesung und, wohl infolge der Angewöhnung, vor allem Brod und Zwieback.

[174] Die Jagd der Spießhirsche ist sehr einfach. Man hetzt sie mit Hunden oder schießt sie auf dem Anstande, welcher dem Jäger den meisten Erfolg verspricht. Außer dem Menschen stellen die großen Katzenarten den erwachsenen und kleinen, sowie die wilden Hunde den jungen Spießhirschen eifrig nach. Das Fell wird höchstens zu Satteldecken benutzt, das Wildpret gern gegessen.


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 173-175.
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