Virginiahirsch (Cervus virginianus)

[156] Die bekannteste Art der Gruppe, der Virginiahirsch (Cervus virginianus, C. strongyloceros, Mazama virginiana), hat in mancher Hinsicht Aehnlichkeit mit unserem Damhirsche, welchem er auch in der Größe ungefähr gleichkommt, unterscheidet sich aber sofort durch den zierlichen Bau und namentlich durch den langgestreckten, feinen Kopf, welcher vielleicht der schönste [156] aller Hirsche genannt werden darf. Nach Versicherung des Prinzen von Wied wird der virginische Hirsch übrigens oft bedeutend größer als unser Damhirsch und gibt dem Edelhirsche nicht viel nach. Die Färbung ändert sich den Jahreszeiten entsprechend. Im Sommerkleide ist ein schönes, gleichmäßiges Gelbroth, welches auf dem Rücken dunkelt und nach den Seiten in Gelbroth übergeht, die vorherrschende Färbung; Bauch und Innenseite der Glieder sind blässer; der Wedel ist oben dunkelbraun, unten und auf den Seiten blendend weiß.

Bezeichnend erscheint die Färbung des Kopfes, welcher immer dunkler als der übrige Körper, und zwar bräunlichgrau, gefärbt ist. Der Nasenrücken pflegt gewöhnlich sehr dunkel zu sein, zu beiden Seiten der Unterlippe aber und an der Spitze des Oberkiefers ziehen sich weiße Flecken herab, welche sich fast zu einem Ringe vereinigen.


Virginiahirsch (Cervus virginianus). 1/15 natürl. Größe.
Virginiahirsch (Cervus virginianus). 1/15 natürl. Größe.

Im Winter ist die Oberseite graubraun, etwa der Winterfärbung unseres Rehes entsprechend, die Unterseite röthlich, die der Läufe gelbröthlichbraun, das Gehör an der Außenseite dunkelgraubraun, an Rand und Spitze schwärzlich, inwendig weiß. Ein Fleck außen am untern Ohrwinkel, die Unterseite des Kopfes, die Hinterseite des Vorderschenkels, der Bauch, die innere und die Vorderseite des Hinterschenkels, die untere Fläche des dünnen, sehr lang und dicht behaarten Schwanzes sind ebenfalls reinweiß; die Zeichnung am Geäse bleibt in beiden Kleidern dieselbe. Nach den vom Prinzen von Wied gegebenen Maßen beträgt die Länge eines Hirsches von mittlerer Stärke 1,8 Meter, die Länge des Wedels 30 Centim., die Länge des Kopfes ungefähr ebensoviel, die Höhe des Ohres 15 Centim., die Höhe des Geweihes 30 Centim. und die Länge [157] jeder Stange, der Krümmung nach gemessen, etwa 50 Centim. Am Widerrist ist ein solcher Hirsch 1 Meter hoch. Das beträchtlich kleinere Thier wird nur 1,3 Meter lang und nicht über 80 Centimeter hoch. Das Kalb ist auf dunkelbraunem Grunde sehr zierlich weiß oder gelblichweiß gefleckt, im übrigen seinen Eltern ähnlich.

Nach den Angaben der amerikanischen Forscher verbreitet sich dieser schöne Hirsch, mit Ausnahme der nördlichst gelegenen, über alle Waldungen von Nordamerika. In den Pelzgegenden soll er sich nicht finden; wohl aber kommt er in Kanada vor. Von der Ostküste Nordamerikas reicht er bis zu den Felsgebirgen und südlich bis nach Mejiko. Früher soll er aller Orten in zahlreicher Menge gefunden worden sein; gegenwärtig ist er aus den stark bevölkerten Theilen schon fast ganz verdrängt oder hat sich wenigstens in die größeren Gebirgswaldungen zurückziehen müssen.

Dank Audubon und anderen Forschern kennen wir gegenwärtig Lebensweise und Betragen des virginischen Hirsches ziemlich genau. Im allgemeinen ähnelt sein Leben dem unseres Edelwildes. Der virginische Hirsch bildet, wie dieses, Trupps und Rudel, zu denen sich die starken Hirsche während der Brunstzeit einfinden, tritt ungefähr zu derselben Zeit wie unser Hirsch auf die Brunst und setzt auch das Kalb oder die beiden Kälber ungefähr in den gleichen Monaten, in denen unser Edelwild geboren wird. Der Hirsch wirft im März ab und fegt Ende Juli oder im August, verfärbt sich dann im Oktober und tritt um diese Zeit auf die Brunst.

Diesen übersichtlichen Worten, welche dem Prinzen von Wied entlehnt sind, will ich einiges aus der Schilderung Audubons hinzufügen. »Das Wild«, sagt er, »hängt fest an dem einmal gewählten Platze, und kehrt nach Verfolgung immer wieder zu ihm zurück. Allerdings thut es sich während der verschiedenen Tage gewöhnlich nicht auf demselben Bette nieder, wird aber doch in derselben Gegend gefunden, oft keine funfzig Schritte von der Stelle, von welcher es früher aufgestört worden war. Seine Lieblingsplätze sind alte Felder, welche theilweise von Buschwald wieder in Besitz genommen worden sind und deswegen ihm Schutz gewähren. In den südlichen Staaten sucht es sich, und zwar namentlich im Sommer, wenn es weniger verfolgt wird, oft die äußeren Hage der Pflanzungen auf und steht hier während des Tages in einem düstern Dickichte zwischen Rohr, wildem Wein und Dornengestrüpp, jedenfalls in möglichster Nähe seines Weidegrundes. Doch ist diese Vorliebe für derartige Oertlichkeiten nicht allgemein: oft findet man auch zahlreiche Spuren des Wildes in Feldern, welche nur von fern her besucht werden. In den Gebirgsgegenden bemerkt man zuweilen ein Stück auf einem hervorragenden Felspunkte niedergethan, dem Steinbock oder der Alpengemse vergleichbar; gewöhnlich aber verbirgt sich das Wild zwischen Myrten- und Lorbeergebüsch, neben umgefallenen Bäumen und an ähnlichen Orten. In der kalten Jahreszeit bevorzugt es die geschützten und trockenen Plätze, steht dann gern unter dem Winde und läßt sich von den Sonnenstrahlen wärmen; im Sommer zieht es sich während des Tages in die schattigen Theile des Waldes zurück und hält sich in der Nähe kleiner Flüsse oder kühler Ströme auf. Um der Verfolgung der Mücken und Stechfliegen zu entgehen, flüchtet es sich oft in einen Fluß oder Teich und liegt hier bis zur Nase im Wasser.

Die Aesung des Wildes ist nach der Jahreszeit verschieden. Im Winter geht es die Zweige und Blätter des Gebüsches an, im Frühling und Sommer wählt es sich, und zwar mit größter Leckerhaftigkeit, das zarteste Gras aus, und kommt oft, dem jungen Mais und anderem Getreide nachgehend, in die Felder herein. Beeren verschiedener Art, Nüsse und ähnliche Früchte, namentlich auch Bücheln, liebt es ungemein. Bei so reichlicher Auswahl an Aesung sollte man meinen, daß es beständig gut von Wildpret sei; dies ist jedoch nicht der Fall, denn mit Ausnahme gewisser Jahreszeiten ist dieser Hirsch sehr schlecht vom Leibe. Die Hirsche sind vom August bis zum November feist. Wir selbst haben solche erlegt, welche 175 Pfund wogen, und sind berichtet worden, daß einzelne ein Gewicht von mehr als 200 Pfund erreichen. Die Brunst beginnt, in Karolina wenigstens, im November, manchmal auch etwas eher. Der Hirsch ist jetzt fortwährend auf den Beinen, fast beständig im Rennen, um seine Gegner aufzusuchen. Wenn er mit anderen [158] Hirschen zusammentrifft, beginnt ein heftiger Zweikampf, in welchem nicht selten einer getödtet wird, obgleich der schwächere gewöhnlich die Flucht ergreift und dem stärkern höchstens in einiger Entfernung folgt, achtungsvoll immer bereit, dem siegreichen Nebenbuhler das Feld zu räumen. Nicht selten verfangen sich zwei gleich starke Hirsche so vollständig mit den Geweihen, daß sie nicht wieder von einander loskommen können und in kläglicher Weise zu Grunde gehen. Wir haben uns bemüht, derartig verschlungene Geweihe zu trennen, aber gefunden, daß weder unsere Geschicklichkeit noch unsere Kraft dies auszuführen vermochte. Verschiedene Male haben wir zwei und einmal drei Paare von Geweihen so verfangen gesehen. Die Brunstzeit währt ungefähr zwei Monate und beginnt bei den älteren Hirschen eher als bei den jüngeren. Gegen den Monat Januar werfen die Hirsche ab, und von dieser Zeit an leben sie friedlich mit einander vereinigt.

Die Thiere sind am feistesten vom November bis zum Januar, fallen hierauf ab, umsomehr, je näher die Satzzeit heranrückt, und nehmen wieder zu, während ihre Kälber sie besaugen. Diese, werden in Karolina im April geboren; Schmalthiere hingegen setzen gewöhnlich erst im Mai oder Juni. In den nördlichen Staaten tritt die Satzzeit etwas später ein als in Florida und Tejas. Auffallend, aber vollkommen begründet ist, daß in Alabama und Florida die Mehrzahl der Kälber im November geboren werden. Das Thier verbirgt sein frisch gesetztes Kalb unter einem dichten Busche oder im dicken Grase und besucht es mehrmals des Tages, namentlich morgens, abends und während der Nacht. Erst später nimmt es das Junge mit sich fort. Wenn die Kälber bloß einige Tage alt sind, liegen sie manchmal so tief im Schlafe, daß sie gefangen werden können, ehe sie die Ankunft eines Menschen wahrnehmen. Sie lassen sich sehr schnell zähmen und schließen sich ihren Fängern schon nach wenigen Stunden innig an. Ein Freund von uns besaß ein Thierkalb, welches nach seiner Gefangennahme zu einer Ziege gebracht und von dieser angenommen wurde, und wir haben andere gesehen, welche von Kühen groß gesäugt worden waren. Sie halten sich gut in der Gefangenschaft; aber wir haben gefunden, daß sie lästige Schoßthierchen sind. Ein Paar, welches wir verschiedene Jahre hielten, hatte sich gewöhnt, unser Studirzimmer durch das offene Fenster zu besuchen, und führte dies auch aus, wenn die Fenster geschlossen waren, unbekümmert um das Glas in denselben. Die Thiere schienen überhaupt einen zerstörungslustigen Sinn zu besitzen, leckten und nagten an unseren Buchdeckeln und verursachten uns oft große Verwirrung unter unseren Papieren. Kein Busch in dem Garten, so werthvoll er uns auch sein mochte, war ihnen heilig; sie benagten selbst unser Kutschengeschirr und machten sich schließlich über unsere jungen Enten und Hühner her, bissen ihnen den Kopf und die Füße ab und ließen dann den verstümmelten Leib liegen.

Das Thier setzt erst, wenn es wenigstens zwei Jahre alt ist, und dann regelmäßig ein Kalb, während es später deren zwei zur Welt bringt. Ein starkes und gesundes Thier gebiert oft drei Kälber, und in dem Leibe eines von uns erlegten Thieres fanden wir sogar vier wohlausgebildete Junge. Die regelmäßige Zahl der Kälber ist zwei. Das Thier liebt sein Kalb ungemein und kommt auf dessen Ruf augenblicklich herbei. Die Indianer brauchen die List, auf einem Rohrstücke das Mahnen des Kalbes nachzuahmen, um die Mutter herbeizulocken, welche dann regelmäßig ihrem Pfeile zum Opfer fällt. Wir selbst haben zweimal Thiere durch Nachahmen der Stimme des Kalbes herbeigerufen. Dem Menschen gegenüber wagt die Mutter ihr Kind nicht zu vertheidigen, sondern denkt nur an die Flucht.

Unser Wild ist sehr gesellig und wird in den westlichen Prairien oft in ungemein zahlreichen Rudeln von vielen hundert Stücken zusammen gesehen. Nach der Brunst schlagen sich, wie wir schon erwähnt haben, auch die Hirsche in Rudel zusammen oder vereinigen sich mit den Thieren, welche den größten Theil des Jahres hindurch zusammenleben.

Das Wild ist eins der schweigsamsten aller Geschöpfe. Es läßt selten einen Laut vernehmen. Das Kalb stößt ein leises Blöken aus, welches von dem feinen Gehör seiner Mutter vielleicht auf eine Entfernung von hundert Schritten wahrgenommen wird; diese ruft ihr Kalb durch ein leises Murmeln herbei. Ein lautes Schreien haben wir nur gehört, wenn das Wild verwundet wurde. [159] Der Bock stößt, wenn er aufgestöbert wird, ein kurzes Schnauben aus; wir haben aber auch nachts ein schrillendes Pfeifen, ähnlich dem der Gemse, von ihm vernommen, und zwar bis auf eine Entfernung von ungefähr einer halben Meile. Die Witterung ist so ausgezeichnet, daß ein Stück dem andern durch Spüren zu folgen im Stande ist. An einem Herbstmorgen sahen wir ein Thier an uns vorüberlaufen; zehn Minuten später beobachteten wir einen Hirsch, welcher es mit der Nase auf dem Boden verfolgte, und zwar auf allen Widergängen seines Laufes; eine halbe Stunde später erschien ein zweiter Hirsch und geraume Zeit nachher ein Spießer als dritter, und alle folgten derselben Fährte. Das Gesicht scheint wenig entwickelt zu sein; wenigstens haben wir beobachtet, daß das Wild, wenn wir still standen, oft wenige Schritte vor uns vorbeiging, ohne uns zu bemerken, während es augenblicklich flüchtig wurde, wenn wir uns bewegten oder wenn wir ihm in den Wind kamen. Das Gehör ist ebenso fein als der Geruch.

Unser Wild kann ohne Wasser nicht bestehen und ist gezwungen, die Flüsse oder Quellen allnächtlich aufzusuchen. Im Jahr 1850 herrschte eine allgemeine Dürre in unseren südlichen Ländern, und die Folge davon war, daß das Wild massenweise seine Stände verließ und sich wasserreicheren Gegenden zuzog. Sehr begierig sind die Hirsche auf Salz: Jäger, welche dies wissen und Salzlecken kennen, machen in der Nähe derselben regelmäßig gute Jagd.

Wenn man das Wild ein nächtliches Thier nennt, muß man hinzufügen, daß es in Prairien oder in Oertlichkeiten, wo es selten gestört wird, auch in den Morgen- und Nachmittagsstunden seiner Aesung nachgeht. Unter solchen Umständen ruht es gewöhnlich nur in den Mittagsstunden. In den Atlantischen Staaten freilich, wo es von den Jägern fortwährend belästigt wird, erhebt es sich selten vor Sonnenuntergang von seinem Bette. Uebrigens sieht man es während des Frühlings und Sommers öfter, als im Winter bei Tage sich äsen.

In Gegenden, wo das Wild fortwährend beunruhigt wird, läßt es den Jäger weit näher an sein Bett herankommen als in Gauen, wo es selten gestört wird. Es bleibt ruhig liegen, aber keineswegs weil es schläft oder nicht wachsam ist, sondern weil es fürchtet, sich laufend dem Blicke auszusetzen, und hofft, im Liegen übersehen zu werden. Wir haben es liegen sehen, die Hinterläufe sprungfertig, das Gehör platt auf die Seiten des Nackens gepreßt, die Lichter scharf jede Bewegung des Störenfrieds bewachend. Unter solchen Umständen darf der Jäger nur dann auf Erfolg hoffen, wenn er langsam rund um das Thier reitet und thut, als ob er es nicht bemerkt habe, dann aber plötzlich feuert, bevor es sich von seinem Bette erhebt. Ehe es Nachstellungen erfahren hat, versucht es, sich bei der Ankunft des Jägers in gedrückter Stellung davon zu schleichen.

Der Gang des Wildes ist verschieden. Im Laufe trägt es sein Haupt niedrig und verfolgt seinen Weg vorsichtig und still, gelegentlich das Gehör und den Wedel bewegend. Das größte Thier ist regelmäßig der Führer des Trupps, welcher in der sogenannten indischen Reihe fortzieht; selten gehen ihrer zwei neben einander. Ein ruhiger Schritt ist die Bewegung des nicht in Furcht gesetzten Wildes. Wenn es aufgestört wird, ohne jedoch erschreckt zu sein, springt es zwei oder dreimal in die Höhe und fällt mit scheinbarem Ungeschick auf drei Läufe nieder, kehrt sich einen Augenblick später der entgegengesetzten Seite zu, erhebt seinen weißen Wedel und dreht ihn von einer Seite zur andern. Darauf folgen dann einige hohe Sprünge, worauf das Haupt nach jeder Richtung hin gedreht wird, um womöglich die Ursache der Störung zu erspähen. Die Sprünge und Sätze sind so anmuthig, daß man sie nur mit Erstaunen und Bewunderung betrachten kann. Sieht dagegen das Wild den Gegenstand seines Schreckens, bevor es sich von seinem Bette erhebt, dann schießt es rasch niedrig auf dem Boden dahin, Haupt und Wedel in einer Linie mit dem Körper gehalten, und so läuft es mehrere hundert Schritte fort, als wolle es mit einem edlen Rosse wetteifern. Diese Art der Bewegung kann es je doch nicht lange fortsetzen; wir haben mehrmals gesehen, daß es durch einen gewandten Reiter überholt und zurückgetrieben wurde, und wissen, daß eine Meute guter Hunde Wild ungefähr nach stündiger Jagd einholt, falls es diesem nicht gelingt, einen Sumpf oder einen Strom zu erreichen, in welchen es sich unter solchen Umständen [160] augenblicklich wirft. Es geht übrigens auch unbedrängt ins Wasser und schwimmt mit großer Schnelligkeit, den Leib tief eingesenkt und nur das Haupt über der Oberfläche erhoben. Nach unseren Erfahrungen kreuzt es zuweilen sehr breite Ströme und durchschwimmt Entfernungen von zwei (englischen) Meilen so rasch, daß ein Boot es kaum überholen kann. An den südlichen Küsten wirft sich das von Hunden verfolgte und ermüdete Wild in die Brandung, schwimmt auf ein oder zwei Meilen in das Meer hinaus und kehrt gewöhnlich zu demselben Platze zurück, von welchem es ausgegangen war.

Wenn wir nachts durch den Wald ritten und an Wild vorüberkamen, hörten wir oft, daß es mit dem Fuße aufstampfte, oder vernahmen von den Hirschen ein lautes Schnaufen. Hierauf stürmte das Rudel eine kurze Strecke dahin und stampfte und schnaufte wieder. Dieses Betragen scheint übrigens nur bei Nacht stattzufinden.

Das Wildpret ist das wohlschmeckendste von dem aller Thierarten, deren Fleisch wir versucht haben. Es ist feiner als das Wildpret des Wapiti oder der europäischen Hirscharten; den höchsten Wohlgeschmack hat es jedoch nur während der Feistzeit in den Monaten August bis December.

Die Erbeutung des Wildes forderte alle List und Geduld der Indianer heraus, bevor das Weißgesicht mit seiner Büchse, seinem Rosse und seinen Hunden in die Jagdgründe eintrat. Der Wilde stritt mit dem Wolfe und dem Puma um solche Beute, und die verschiedensten Jagdarten wurden in Anwendung gebracht. Am häufigsten erlegte man das Wild, indem man das Mahnen des Kalbes oder das Schreien des Bockes nachahmte. Zuweilen auch kleidete sich der Wilde in die Decke des erlegten Hirsches, dessen Geweih er am Kopfe festgebunden hatte, und ahmte getreulich den Gang und alle übrigen Bewegungen des Hirsches nach, wodurch es ihm gelang, sich bis mitten in das Rudel zu schleichen und dann oft mehrere nach einander mit dem Bogen zu erlegen, ehe das Rudel flüchtig wurde. Nach unserem Dafürhalten haben die nordamerikanischen Indianer zur Erlegung ihrer Jagdbeute niemals vergiftete Pfeile gebraucht wie die Indianer Südamerikas. Seit der Einführung der Feuerwaffen haben jedoch die meisten Stämme Bogen und Pfeil bei Seite gelegt und das Gewehr angenommen. Aber auch mit dieser Waffe schleichen sie sich gewöhnlich möglichst nahe an das sich äsende Rudel an und schießen selten auf weiter als auf dreißig Schritte, dann freilich mit dem größten Erfolge.

Der weiße Mann jagt je nach des Landes Beschaffenheit. In Gebirgsgegenden bevorzugt er die Pirsche, in dicht bewachsenen Wäldern nimmt er die Hunde zu Hülfe und gebraucht dann anstatt der Büchse ein mit starken Posten geladenes Doppelgewehr. Bei tiefem Schneefalle benutzt man in einigen Gegenden auch Schneeschuhe und verfolgt mit ihrer Hülfe das Wild, welches sich unter solchen Umständen nur langsam fortbewegen kann. Weniger waidmännisch verfährt man in Virginien, indem man entweder starke Stahlfallen in die Nähe des Wassers stellt oder längs der Innenseite der Feldgehege spitzige Pfähle einrammt, auf denen sich das überspringende Wild spießt. Hier und da betreibt man die Jagd vom Bote aus: man kennt die Stellen, an denen das Wild über die Ströme oder Seebusen zu setzen pflegt, jagt es mit Hunden auf, verfolgt es mit dem Bote und schießt es im Wasser zusammen. Ganz eigenthümlich ist die Feuerjagd. Zu ihr sind zwei Jäger erforderlich. Der eine trägt eine Eisenpfanne, auf welcher er mit harzigem Holze ein kleines Feuer unterhält; der andere, welcher dicht neben ihm geht, führt das Gewehr. Durch den Anblick des ungewohnten Lichtes mitten im Wald wird das Wild so überrascht, daß es ruhig stehen bleibt; seine Augen spielen dann den Schein der Flamme wieder und geben dem Jäger Gelegenheit zum Zielen. Oft kommt es vor, daß nach dem Schusse einige Glieder des Trupps sich von neuem nach der Flamme kehren. Das einzige unangenehme bei dieser Jagd ist, daß der Jäger, welcher die beiden feurigen Augen wahrnimmt, nicht unterscheiden kann, ob er Wild oder ein Thier seiner Herde vor sich hat; es kommt auch gar nicht selten vor, daß gelegentlich solcher Jagden die im Walde weidenden Herdenthiere erlegt werden. Ein Herr erzählte uns, daß er nur einmal in seinem Leben die Feuerjagd [161] betrieben habe. Auch er glaubte die Augen eines Hirsches zu sehen, feuerte und verwundete sein Wild tödtlich, erlegte sogar wenige Minuten darauf ein zweites Thier in derselben Weise. Als er am nächsten Morgen ausging, um nach seiner Beute zu suchen, fand er freilich, daß er anstatt der Hirsche zwei seiner besten Füllen erschossen hatte! Nach einer andern Erzählung feuerte ein Jäger auf zwei glänzende Punkte und erlegte dabei einen Hund, verwundete zugleich aber auch einen Neger, zwischen dessen Beinen der Hund gestanden hatte.

Wir sind versichert worden, daß unser Wild von einem guten Windhunde regelmäßig gefangen wird. Ein Paar dieser trefflichen Thiere, welche in Karolina eingeführt worden, fing gewöhnlich den Hirsch nach einem Laufe von wenigen hundert Schritten. Stöber hunde wurden benutzt, um die Hirsche aufzusuchen und aufzutreiben, dann übernahmen die Windhunde die Verfolgung.

Mit lebhaftem Bedauern müssen wir die Befürchtung der Jäger bestätigen, daß unser Wild im schnellen Abnehmen begriffen ist und möglicherweise bald ausgerottet sein wird. Schon gegenwärtig gibt es in Karolina kaum den funfzigsten Theil des Wildes mehr, welches vor zwanzig Jahren dort lebte. In den nördlichen und mittleren Staaten ist es bereits ausgerottet, und nur in den südlichen Ländern, wo die ausgedehnten Wälder, Brüche und Sümpfe den Anbau des Bodens verwehren, treibt es sich noch in großer Anzahl umher, obgleich auch hier schon viele Pflanzer ihre Hunde verschenkt haben, weil für sie keine Arbeit mehr sich findet.«

Ich will dieser Schilderung Audubons, welche ich übrigens nicht streng übersetzt und nur im Auszuge gegeben habe, bloß das eine noch hinzufügen, daß, nach meinen Erfahrungen, die gefangenen virginischen Hirsche, wenn sie entsprechend gehalten werden, zu den anmuthigsten Geschöpfen gehören, welche der Mensch an sich fesseln kann. Darin mag Audubon Recht haben: für das Zimmer eignen sie sich wie alle Hirsche nicht, – einem Parke oder überhaupt einen Raume aber, welcher ihretwegen umhegt worden ist, gereichen sie zur größten Zierde. Sie gewöhnen sich in kurzer Zeit an ihren Pfleger und beweisen ihm eine besondere Zärtlichkeit. Mazamahirsche, welche ich pflegte, näherten sich vertrauensvoll ihren Bekannten und nahmen die ihnen dargereichten Leckerbissen nicht nur freundlich entgegen, sondern leckten dem Geber auch dankbar die Hand. Leider tritt ein Uebelstand der Hegung dieser Hirsche in engeren Räumen hindernd entgegen: sie brechen sich oft ihre zarten Läufe und gewöhnlich so unglücklich, daß die Heilung schwer oder unmöglich ist. Ein ungeschickter Sprung im Stalle kann solche Verluste bewirken, und noch häufiger als im Stalle selbst verunglückten sie in der angegebenen Weise, wenn sie scherzend in der Nähe der Gitter sich vergnügen oder während der Brunst sich gegenseitig treiben, ohne auf jeden Schritt zu achten. Mit mehr Erfolg pflegt man Virginiahirsche in größeren Thierparks. Sie gedeihen hier, da ihre ursprüngliche Heimat annähernd dasselbe Klima hat wie Mitteleuropa, über Erwarten gut, vermehren sich stark und bilden bald ansehnliche Trupps, eignen sich daher besser als jeder andere Hirsch zur Einbürgerung in unseren Gegenden. Freilich richten sie hier mindestens ebenso viel Schaden an wie Roth- oder Damwild, werden also immer nur in Gehegen, welche man ihnen preisgibt, geduldet werden können. Graf Bräuner unterhält gegenwärtig auf seinen Besitzungen in Oesterreich stattliche Rudel und ist mit dem Erfolge der von ihm angestellten Einbürgerungsversuche in jeder Beziehung zufrieden gestellt worden.


*


Bei den Sprossenhirschen (Blastoceros), deren Heimat Südamerika ist, verästeln sich die aufrechtstehenden Geweihe in drei bis fünf Sprossen, von denen einer nach auswärts sich richtet; Eis- und Mittelsprossen fehlen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 156-162.
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