Schneeziege (Capra montana)

[335] Die Schneeziege, Berg- oder Weißziege der Amerikaner, Nane der Kanadier (Capra montana, Ovis montana, Capra, Antilope, Rupicapra und Mazama americana, Aplocerus [335] oder Haplocerus americanus, lanigerus und montanus, Capra colum biana, Antilope lanigera, Mazama sericea und dorsata), hat durchaus die Gestalt der Hausziege, sieht jedoch infolge ihrer sehr reichen Behaarung gedrungener und kurzhälsiger aus als eine solche, obgleich ihr Leib eigentlich schlank genannt werden muß. Der Kopf ist gestreckt, das Auge groß, das Ohr mittellang und scharf zugespitzt. Die Hörner fallen durch ihre geringe Größe und Schlankheit, ihre Richtung und Wulstung auf, sind höchstens 20 Centim. lang, an der Wurzel fast rund und in der unteren Hälfte leicht geringelt, im zweiten Drittheil seitlich etwas zusammengedrückt, an der Spitze wieder gerundet, zeigen weder Kanten noch Grate, dagegen unterhalb der Hälfte der Länge eine rundum laufende Schwellung, welche nahe der Spitze noch einmal, jedoch in schwächerem Maße sich wiederholt, und richten sich in einfachem, sanftem Bogen nach oben, hinten und außen; der kurze Schwanz ist oben und seitlich buschig behaart; die Beine sind stämmig und erscheinen wegen der reichen Behaarung noch stärker als sie sind; Afterklauen und Hufe, welche letztere in ihrer oberen Hälfte von starren Haaren bedeckt werden, entsprechen dem kräftigen Baue des Beines, unterscheiden sich jedoch nicht wesentlich von denen anderer Wildziegen. Das am ganzen Körper gleichfarbige, weiße Haarkleid besteht aus langem, hartem Grannenhaare und aus feiner, langer, schlichter Unterwolle, welche beide theils einzeln, theils vereinigt auftreten, bedeckt den Leib und seine Glieder jedoch in sehr verschiedener Weise. Im Gesicht und auf der Stirne bemerkt man fast nur dichte, feine, krausgelockte Wolle ohne Grannen; am Halse, den Seiten, dem Bauche und den Schenkeln bilden beide Haararten gemeinschaftlich die Bekleidung; im Nacken, auf dem Oberhalse, dem Rücken, Schwanze und dem mähnenartigen Behange des Unterhalses, der Brust, Schulter und Vorderseite der Hinterschenkel fehlt die Wolle gänzlich. Auf dem Hinterkopfe steht ein dicker, langer Haarbusch, welcher nach allen Seiten herabfällt und in die Mähne des Oberhalses und Rückens übergeht; am Kinne und Unterkiefer hängt der üppige Bart in dichten, förmlich abgetheilten Locken herab; den Hals bedeckt ein über das Schulterblatt herabfallender Kragen langer Haare, welcher sich auf der Vorderseite der Schultern und der Oberarme in einen mähnenartigen Behang fortsetzt und die Vorderbeine fast verhüllt, d.h. nur das untere Drittheil derselben frei läßt; eine ähnliche Mähne umkleidet die Vorderseite der Hinterbeine, entwickelt sich jedoch erst oberhalb der Ferse; der Schwanz endlich ist mit einer langen und dicken Grannenquaste bestanden. Im Gesicht bekleidet die Wolle alle Theile, die Augen bis an den Spalt der Lider, die Nase bis an den Rand der Nasenlöcher; das hängende Ohr dagegen ist außen wie innen mit steifen, dichten Grannen bedeckt, welche, abweichend von der Ohrbehaarung anderer Thiere, sich nach der Spitze richten. Das Fell fühlt sich fettig an wie Schafwolle und besitzt einen ziemlich festen Zusammenhang, indem die einzelnen Haare merklich aneinander haften. Die Gesammtlänge des Thieres beträgt 1,2 Meter, die Schwanzlänge 9 Centim., die Höhe am Widerrist 68, die Kreuzhöhe 73 Centim.

Von dem vorstehend beschriebenen Thiere, einer im Museum zu Leyden befindlichen Ziege, unterscheidet sich, nach Angabe amerikanischer Forscher, der Bock einzig und allein durch etwas bedeutendere Größe, ein wenig stärkere, jedoch im wesentlichen gleichgestaltete Hörner und den längeren Bart. Ein Zicklein des Leydener Museums hat keine Unterwolle, sondern nur ein mittellanges, schlichtes, bloß auf der Stirn und im Nacken etwas verlängertes Haarkleid von ebenfalls reinweißer Färbung.

Das Verbreitungsgebiet der Schneeziege beschränkt sich auf den nördlichen Theil des Felsengebirges und reicht nach Norden hin bis zum 65. Breitengrade. Laut Baird tritt sie am häufigsten auf den Hochgebirgen des Washingtongeländes, laut Prinz von Wied hier besonders im Quellgebiete des Columbiaflusses auf. Ueber ihre Lebensweise sind wir erst in der neuesten Zeit einigermaßen unterrichtet worden. Nach Angabe des ungenannten Berichterstatters bewohnt sie einen so bedeutenden Höhengürtel, daß sie zu ihrer Aesung nichts anderes findet als Flechten und Moose und Alpenpflanzen der ausdauerndsten Art, im günstigsten Falle einige wenige verkümmerte Gebüsche einer Kiefer (Pinus contorta) und ähnliche dürftige Gebüsche. Gleichwohl führt sie um diese Zeit ein recht behagliches Leben, und die Sorge tritt erst an sie heran, wenn sie im Winter [336] genöthigt ist, ihre Hochalpenweiden zu verlassen. Während des Sommers klimmt sie bis zu fünftausend Meter unbedingter Höhe im Gebirge empor und wählt ihren Stand dann mit Vorliebe am unteren Rande der schmelzenden Schneefelder, im Winter pflegt sie etwas tiefer herabzusteigen, ohne jedoch das eigentliche Hochgebirge zu verlassen. In solchen Gebirgswildnissen, welche nur ausnahmsweise von Menschen betreten werden, geht sie mit sorgloser Eile ihre verschlungenen Pfade, mit der Sicherheit ihres Geschlechtes von einem Felsblocke zum anderen springend und die scheinbar unzugänglichsten Wände bekletternd. Abweichend von anderen Ziegenarten sollen Böcke die Führung übernehmen und ihnen Ziegen und Kitzchen in einfacher Reihe folgen. Aufgescheucht, oder durch einen Schuß erschreckt, eilen die Trupps in vollem Galopp an den Rändern der fürchterlichsten Abgründe dahin oder kreuzen eine Schlucht, eine nach der anderen dieselbe Stelle betretend, eher mit der Leichtigkeit und Anmuth eines beschwingten Geschöpfes als nach Art des behendesten und gewandtesten Vierfüßlers. Außerordentlich vorsichtig und begabt mit ungemein scharfem Gehör und Geruch, vereitelt die Schneeziege in den meisten Fällen jede Annäherung seitens des Menschen und läßt sich deshalb ebenso schwer beobachten als erlegen. Die Satzzeit fällt in den Anfang des Juni; denn von dieser Zeit an sieht man kleine Kitzchen, und zwar regelmäßig je eins hinter jeder Mutterziege, in selteneren Fällen Zwillinge. Die Kitzchen sind überaus niedliche, wie alle Ziegen spiellustige, in der Behendigkeit ihrer Sprünge geradezu unübertreffliche Wesen.

Abgesehen von einzelnen Naturforschern und leidenschaftlichen Bergjägern der weißen Rasse befassen sich nur die Indianer mit der Jagd in jenen menschenleeren Höhen, ohne jedoch die Schneeziege mit besonderem Eifer zu verfolgen. Das Wildpret derselben wird nicht geschätzt, weil es ebenso zähe als mit einem heftigen, nicht einmal dem des Kitzchens fehlenden Bockgeruche behaftet ist und selbst den Indianern, deren Geschmack bekanntlich keineswegs als heiklig bezeichnet werden darf, aus diesem Grunde widersteht. Man jagt deshalb die Schneeziege fast ausschließlich des Felles wegen, welches entweder an die Niederlagen der Hudsonsbaigesellschaft abgegeben oder von den Indianern zu einer kunstlosen Decke verarbeitet wird. Im Anfange der sechziger Jahre standen die Vliese ziemlich hoch im Werthe, weil man damals Muffe und Kragen aus dem Felle eines afrikanischen Affen mit Vorliebe trug und die gefärbte Decke der Schneeziege infolge ihrer Gleichartigkeit mit dem Affenfelle zu gleichen Zwecken verwendete. Mit dem Wechsel der Mode verlor das eine wie das andere seinen Werth, so daß gegenwärtig kaum mehr als eine Mark unseres Geldes für das Vlies bezahlt wird. Lord, welcher in den letzten Jahren die Schneeziege beobachtete und ihre Wolle sowie die aus derselben gefertigten Zeuge genauer untersuchte, erachtet das Thier als zur Einbürgerung auf europäischen Höhen besonders geeignet, scheint dabei jedoch zu vergessen, daß wir die Kaschmirziege, deren Nutzen offenbar größer sein dürfte, weit leichter verbreiten könnten als eine wilde Stammart, welche meines Wissens noch niemals in Gefangenschaft gehalten worden ist und selbst in den meisten Reichsmuseen gegenwärtig noch fehlt.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 335-337.
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