Rinder

[370] Die Stiere oder Rinder (Bovina), welche die dritte Unterfamilie der Hornthiere bilden, sind große, starke und schwerfällige Wiederkäuer, deren Merkmale hauptsächlich in den mehr oder weniger runden und glatten Hörnern, der breiten Schnauze mit den weit auseinander stehenden Nasenlöchern, dem langen, bis ans Handgelenk reichenden, gequasteten Schwanze, dem Mangel an Thränengruben und Klauendrüsen und dem vierzitzigen Euter des Weibchens liegen. Die meisten zeichnen sich auch durch eine hängende Wamme am Halse aus. Ihr Geripp zeigt sehr plumpe und kräftige Formen. Der Schädel ist breit an der Stirn und an der Schnauze wenig verschmälert; die runden Augenhöhlen stehen weit seitlich hervor, die Stirnzapfen, auf denen die Hörner sitzen, wachsen seitlich aus dem hinteren Schädel heraus; die Halswirbel sind sehr kurz, haben aber lange Dornfortsätze; dreizehn bis funfzehn Wirbel tragen Rippen; am zwölften oder vierzehnten befestigt sich das Zwerchfell; sechs oder sieben Wirbel bilden den Lendentheil, vier oder fünf innig mit einander verschmolzene das Kreuzbein; die Anzahl der Schwanzwirbel wächst bis auf neunzehn an. Der Zahnbau ist nicht besonders auffallend. Gewöhnlich sind die inneren Schneidezähne jeder Seite die größten und unten die äußersten die kleinsten; unter den vier Backenzähnen in jedem Kiefer pflegen die vordersten klein, die hintersten aber sehr entwickelt zu sein. Die Kauflächen sind nach den Arten mannigfach verschieden. Die Hörner, welche bei einigen Rindern an der Wurzel sich verbreitern und dann fast die ganze Stirn bedecken, lassen diese bei der großen Mehrzahl frei, sind glatt, rundlich oder höchstens am Grunde quer gerunzelt und krümmen sich in sehr verschiedener Weise nach außen oder innen, nach hinten oder nach vorn, nach aufwärts und nach abwärts, oder haben leierförmige Gestalt. Das Haarkleid ist gewöhnlich kurz und glatt anliegend, verlängert sich aber bei einzelnen Arten mähnenartig an gewissen Stellen des Leibes.

Ganz Europa und Afrika, Mittel- und Südasien sowie der höhere Norden Amerikas dürfen als die ursprüngliche Heimat der Stiere betrachtet werden; gegenwärtig sind die in die Knechtschaft des Menschen übergegangenen Arten über alle Theile des Erdballs verbreitet worden. Die wildlebenden bewohnen die verschiedensten Oertlichkeiten, diese dichtere Waldungen, jene freie Blößen oder Steppen, die einen die Ebene, die anderen das Gebirge, wo sie sogar zu Höhen von fünf- bis sechstausend Meter über die Meeresfläche emporsteigen. Einige ziehen sumpfige Gegenden und Moräste, andere mehr trockene Oertlichkeiten vor. Die wenigsten sind Standthiere, führen vielmehr ein umherschweifendes Leben. Die, welche das Gebirge bewohnen, kommen im Winter in die Thäler herab, jene, welche im Norden leben, ziehen sich südlicher, andere wandern aus Mangel an Nahrung von einer gewissen Oertlichkeit in nahrungsreichere Gegenden. Alle Arten ohne Ausnahme leben gesellig und schlagen sich herdenweise zusammen; einzelne bilden Heere von tausenden. Starke, alte Thiere führen die Herden an; doch kommt es auch bei ihnen vor, daß bösartige Zugführer zuweilen vertrieben und zum Einsiedeln gezwungen werden.

Alle Rinder erscheinen zwar plump und langsam, sind aber doch im Stande, sich rasch zu bewegen, und bekunden viel mehr Fertigkeiten, als man ihnen zutrauen möchte. Ihre gewöhnliche Bewegung ist ein langsamer Schritt; allein sie traben auch schnell dahin und fallen zuweilen in einen höchst unbeholfenen Galopp, welcher sie sehr rasch fördert. Die Arten, welche Gebirge bewohnen, klettern meisterhaft, alle schwimmen leicht und gut und einzelne setzen ohne Bedenken über die breitesten Ströme. Ihre Kraft ist außerordentlich, ihre Ausdauer bewunderungswerth. Unter den Sinnen steht der Geruch obenan; das Gehör ist ebenfalls gut, das Gesicht nicht besonders entwickelt. Die geistigen Fähigkeiten sind gering; doch bekunden die wilden weit mehr Verstand als die zahmen, welche ihre Geisteskräfte nicht anzustrengen brauchen. Ihr Wesen ist verschiedenartig. Im allgemeinen sanft und zutraulich gegen Geschöpfe, welche ihnen nicht gefährlich oder beschwerlich werden, zeigen sie sich auch überaus wild, trotzig und in hohem Grade muthig, greifen, gereizt, unter Todesverachtung alle Raubthiere, selbst die stärksten, an und wissen ihre furchtbaren Waffen mit so viel Geschick zu gebrauchen, daß sie gewöhnlich Sieger bleiben; unter sich im ganzen verträglich, kämpfen sie doch zu gewissen Zeiten mit entschiedener Rauflust, und namentlich die [371] Männchen führen während der Brunstzeit prachtvolle und dabei höchst gefährliche Kämpfe.


Geripp des Wisent. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)
Geripp des Wisent. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)

Die Stimme besteht in hellerem oder dumpferem Gebrüll oder in einem Grunzen und Brummen, welches hauptsächlich gehört wird, wenn sie erregt sind.

Sehr verschiedene Pflanzenstoffe bilden die Nahrung der Rinder. Sie verzehren Laub und zarte Knospen, Triebe und Zweige der allerverschiedensten Bäume, Gräser und Kräuter, Baumrinde, Moos und Flechten, Sumpf- und Wasserpflanzen, selbst scharfschneidiges Riedgras und rohrähnliche Gewächse. In der Gefangenschaft nähren sie sich von allen möglichen Pflanzenstoffen. Salz ist für alle ein Leckerbissen, Wasser ihnen Bedürfnis; manche wälzen sich mit Lust in schlammigen Lachen oder legen sich stundenlang in Flüsse und Teiche.

Der Begattung gehen gewaltige Kämpfe unter den Stieren voraus. Neun bis zwölf Monate nach ihr wirft die Kuh ein einziges Junge, sehr selten deren zwei. Das Kalb ist immer vollkommen ausgebildet und nach kürzester Zeit im Stande, der Mutter zu folgen. Diese behandelt es mit warmer Zärtlichkeit, säugt und reinigt, beleckt und liebkost es und vertheidigt es bei Gefahr mit tollkühnem Muthe gegen jeden Angriff. Nach drei bis acht Jahren ist das Junge erwachsen und zur Fortpflanzung geeignet, nach funfzehn bis funfzig Jahren greisenhaft und altersmatt.

Sämmtliche Rinderarten lassen sich zähmen und geben sich sodann willig dem Menschen hin, lernen ihre Pfleger kennen und lieben, folgen deren Rufe und gehorchen selbst einem schwachen Kinde, ziehen jedoch ihren Herrn eigentlich anderen Menschen nicht vor, sondern behandeln, wenn sie einmal gezähmt worden sind, alle Leute mit der gleichen Freundlichkeit.

Die Jagd der wilden Rinder gehört zu den ernstesten, welche es gibt. Ein Löwe und ein Tiger können nicht gefährlicher sein als ein gereizter Stier, dessen blinde Wuth keine Grenzen mehr kennt. Gerade deshalb aber betreibt man solche Jagd mit größter Leidenschaft, und manche Völker sehen sie als die rühmlichste von allen an.

Gegen den Nutzen, welchen die zahmen Rinder leisten, verschwindet der geringe Schaden, den die wildlebenden anrichten, fast gänzlich. Diese werden höchstens durch das Benagen der Bäume und Sträucher in den Wäldern, durch das Zerstören des Graswuchses und durch Verheerungen, [372] die sie in Pflanzungen ausüben, dem Menschen lästig; die gezähmten dagegen nützen ihm mit ihren sämmtlichen Kräften, durch ihr Fleisch und ihre Knochen, ihre Haut und ihr Gehörn, ihre Milch, selbst durch ihr Haar und ihren Mist.

Auch die Jagd der wildlebenden Rinder liefert einen nicht unerheblichen Ertrag, da nicht allein die Haut benutzt wird, sondern auch das Fleisch, ungeachtet des ihm stets und zu gewissen Zeiten in anwidernder Weise anhaftenden Moschusgeruches, eine vorzügliche Speise gibt.

Rings um den Nordpol der Erde zieht sich als breiter Streifen die Tundra, eine Wüste der traurigsten Art, obwohl in ihr nicht die Sonne, sondern nur das Wasser zur Herrschaft gelangt, ein einziger, ungeheurer Moor und Morast, unterbrochen von einzelnen ausdruckslosen Hügelreihen, zwischen denen sich größere und kleinere Flüsse ihr Bette gebahnt haben und unzählbare Seen, Teiche und Wasserlachen ausbreiten. Inselgleich heben sich jene Höhenzüge aus dem Moore hervor, und die wenigen Stellen, welche der Mensch hier, von der Ungunst des Klimas gehindert, der Erde abrang, sind ebenfalls als Oasen zu bezeichnen. Aus ungeheuren Felsblöcken zusammengebautes und über einander geschichtetes Geröll, dessen Entstehung schwer erklärlich erscheint, bildet den Untergrund, eine Schicht vertorfter Pflanzenreste lagert sich darüber, und nur in den geschütztesten Thälern erheben sich über dieser höhere Pflanzen, Bäume, welche zu Gebüschen herabgesunken sind, Beerensträucher, Gräser und dergleichen, wogegen die Höhen, falls sie überhaupt noch Pflanzenwuchs zeigen, meist nur Flechten und Moose gedeihen lassen. Ein solches Gepräge zeigt aber nur der südlichste Theil der Tundra oder, wie wir im Deutschen sagen könnten, der Moossteppe; je weiter man nach Norden vordringt, um so öder, ärmer und unwirtlicher erscheint das Land. In den höchsten Breiten, welche man gegenwärtig erreicht hat, im Norden Grönlands z.B., bringt es, wie Payer hervorhebt, die Pflanzenwelt fast nirgends dahin, die allgemeine, durch die Felsart des Bodens bedingte Färbung abzuändern, sondern vermag höchstens dieselbe zu schattiren. Moose, Flechten, graugrüne Gräser, Ranunkeln, Steinbrecharten bilden vereinzelte ärmliche Siedelungen zwischen den verwitterten Steinfugen; die Wälder sind hier und da durch wenige Centimeter hohe Birken, deren Stämme manchmal ein Zündhölzchen an Stärke nicht übertreffen, oder durch niedriges Heidelbeergestrüpp, häufiger durch völlig am Boden hinkriechende, wurzelartig sich verzweigende Weiden vertreten. Das Gepräge dieser Landschaften bleibt dasselbe in der Höhe wie in der Tiefe: denn infolge des monatelangen Nordtages macht sich die Meereshöhe als Wachsthumsbedingung weniger fühlbar als in Europa, wo sich die pflanzliche Bedeckung der Erde um jede dreihundert Meter Erhebung merklich ändert; nur nimmt man wahr, daß die größere Sommerwärme des felsigen Binnenlandes eine mannigfaltigere Pflanzenwelt erzeugt als jene der Küstenstriche. Frühere Eskimoniederlassungen lassen sich, wenngleich meist nur auf wenige Geviertklafter Fläche beschränkt, infolge der stattgehabten günstigen Bedingungen durch ihre grünere Farbe schon aus der Ferne erkennen; Wiesen in unserem Sinne gibt es nirgends.

So arm und öde aber auch die Tundra dem Südländer vorkommen will, immerhin erhält und ernährt sie noch verschiedene ihr eigenthümliche Thierarten. Eine nicht unerhebliche Artenmenge von Vögeln bevölkert sie in großer Anzahl; außerdem wohnen und leben in ihr mehrere Nager, insbesondere Wühlmäuse, welche wiederum Raubthiere, den Eisfuchs, den Vielfraß und einige Marderarten, nach sich ziehen, aber keineswegs die alleinigen von den genannten und hier und da von Wölfen verfolgten Bewohner sind, vielmehr noch im Renthiere und in einem der auffallendsten, falls nicht dem merkwürdigsten aller Rinder Genossen haben. Die Unwirtlichkeit und Oede der Tundra, ihre Armut und die Qual, welche Milliarden von Mücken während ihres kurzen Sommerlebens all den genannten Thieren bereiten, treiben diese beständig von einem Orte zum anderen, und es findet daher, wie in den eigentlichen Wüsten und Steppen, ein reges Wanderleben [373] sämmtlicher Thiere statt. Monatelang hausen die Wühlmäuse auf einer und derselben Stelle, durch rasch auf einander folgende Geburten eine zahlreiche Nachkommenschaft nicht selten zu unzählbaren Herden vermehrend, welche dann durch den nagenden Hunger zum Verlassen der Oertlichkeiten getrieben werden; fast beständig reisend, durchziehen die größeren, mehr Nahrung bedürftigen Thiere, das Renthier und der Schaf- oder Moschusochse das Land, und wie jenen die kleineren, so folgen diesen die größeren Raubthiere nach.

In vorgeschichtlicher Zeit lebten die genannten Wiederkäuer in weit südlicheren Gegenden, und namentlich der Schafochse hat, laut Duncan, »hart gekämpft um das Dasein«, wie die von ihm in manchem alten Flußbette Europas und Asiens zurückgelassenen Knochenstücke uns überzeugen. Mehr als funfzehn Breitengrade tiefer lag früher die südliche Grenze seines Verbreitungsgebietes, während sie jetzt in Amerika, dem einzigen von ihm noch bewohnten Erdtheile, erst jenseit des sechzigsten Grades nördlicher Breite beginnt. Nach Hartlaub, welcher neuerdings die Angaben der verschiedenen über den Schafochsen berichtenden Nordfahrer zusammengestellt hat, erstreckt sich das Verbreitungsgebiet gegenwärtig über die Tundra des nordamerikanischen Festlandes, die Gruppe der Parry-Inseln und einen Theil von Grönland, somit etwa über einhundertfünfunddreißig Längengrade. Als Südgrenze haben wir uns eine längs des Saumes der Wälder gezogene Linie zu denken, etwa von der Mündung des Willkommflusses in die Hudsonsbai, um den sechzigsten Breitengrad herum, in einer westlichen und nördlichen Richtung, bis zum sechsundsechzigsten Grade, auf der nordwestlichen Ecke des großen Bärensees, und von dort in derselben Richtung bis Kap Bathurst, unter dem einundsiebzigsten Grade nördlicher Breite. Von hier aus nach Osten hin bevölkert das Thier alle oder fast alle größeren und wohl auch die meisten kleinen Inseln und Eilande zwischen dem Nordrande Amerikas und Grönland, insbesondere die Barren- und Montrealinsel, die größeren Eilande des Parry-Archipels, Cornwallis, Melville, Prinz-Patricks-, Grinnellinsel und andere, sowie endlich den Norden von Grönland, und zwar dessen östlichen Theil ebensowohl wie den westlichen. Sein Vorkommen in Westgrönland war schon früher mehrfach behauptet, aber ebenso oft geleugnet worden; das Auftreten des Thieres im Osten aber, und zwar auf den von Sabine und Clavering besuchten, beziehentlich nach beiden genannten Inseln, wurde erst durch die deutschen Nordfahrer festgestellt. Kurz nach unseren muthigen Landsleuten fanden auch die Mitglieder der Polarisfahrt Moschusochsen in Westgrönland auf, und zwar noch unter 810 38' nördlicher Breite, woraus also hervorgeht, daß diese Thiere ebenso weit nach Norden hin vorzudringen scheinen als irgend ein anderes Säugethier.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 370-374.
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