Tarpan

[5] Noch gegenwärtig schwärmen in den Steppen Südosteuropas Pferdeherden umher, welche von einzelnen als die wilden Stammeltern unseres Hausthieres, von anderen als von diesem herstammende und wieder verwilderte Nachkömmlinge desselben betrachtet werden. Diese Pferde, welche man Tarpane nennt, haben alle Eigenschaften echt wilder Thiere an sich und werden von Tataren und Kosaken als solche angesehen. Der Tarpan ist ein kleines Pferd mit dünnen, aber kräftigen, langfesseligen Beinen, ziemlich langem und dünnem Halse, verhältnismäßig dickem, rammsnasigem Kopfe, spitzigen, nach vorwärts geneigten Ohren und kleinen, lebhaften, feurigen, boshaften Augen, seine Behaarung im Sommer dicht, kurz, gewellt, namentlich am Hintertheile, wo sie fast gekräuselt genannt werden kann, im Winter dagegen dicht, stark und lang, zumal am Kinne, wo sie fast einen Bart bildet, die Mähne kurz, dicht, buschig und gekräuselt, der Schwanz mittellang. Ein gleichmäßiges Fahlbraun, Gelblichbraun oder Isabellgelb bildet die vorherrschende Färbung des Sommerkleides; im Winter werden die Haare heller, bisweilen sogar weiß; Mähne und die Schwanzhaare sehen gleichmäßig dunkel aus. Schecken kommen niemals vor, Rappen sind selten.

Der erste eingehende Bericht über den Tarpan rührt meines Wissens von Samuel Georg Gmelin her und begründet sich auf Beobachtungen, welche genannter Forscher in den Jahren 1768 und 1769 sammeln konnte; weitere Nachrichten danken wir Pallas, welcher vier Jahre später Gmelins Spuren folgte. Beide äußern sich ziemlich übereinstimmend. »Vor einigen zwanzig Jahren«, sagt der erstgenannte, »gab es hier, in der Nachbarschaft von Woromesch, wilde Pferde genug; sie wurden aber, weil sie so vielen Schaden anrichteten, immer weiter in die Steppen gejagt und gar oft zerstreut.« Gmelin erzählt hierauf, wie er von dem Vorhandensein der Thiere neuere Nachricht erhalten, daraufhin zur Jagd ausgezogen sei, in der Nähe der kleinen Stadt Bobrowsk sie und in ihrer Gesellschaft eine russische Stute auch wirklich gesehen, endlich, nachdem man den führenden Hengst getödtet, außer zwei erlegten Stuten auch ein lebendes Füllen in seine Gewalt bekommen habe, schildert Gestalt und Färbung, Auftreten und Wesen des Tarpan und schließt wie folgt. »Es ist doch artig, zu wissen, es befinden sich noch in Europa wilde Pferde. Könnte man nicht, weil die wilden Pferde beinahe halb Pferde, halb Esel sind, auf den Gedanken kommen: sind nicht letztere ausgeartete Pferde, durch die Zucht zu Eseln geworden? Machen also zahme, wilde Pferde und Esel nicht eine einzige allgemeine Rasse aus? Von den beiden ersten ist gar kein Zweifel; denn sie begatten sich, und die Bastarde sind fruchtbar. Was die letzteren betrifft, so müßte man die Eigenschaften der Maulthiere genauer kennen etc.« Auch Pallas hält Tarpan und Pferd für gleichartig. »Ich fange immer mehr an zu muthmaßen«, sagt er, »daß die in der Jaikischen und Donischen Steppe sowie auch in der Baraba herumschweifenden wilden Pferde großentheils nichts anderes als Nachkömmlinge verwilderter kirgisischer und kalmückischer Pferde oder vordem hier umherziehenden Hirtenvölkern gehöriger Hengste sind, welche theils einzelne Stuten, theils ganze Herden entführt und mit selbigen ihre Art fortgepflanzt haben.«

[5] »Zu Anfange der funfziger Jahre«, so schreibt mir Freund Radde, »bezeichnete man östlich vom unteren Dnjepr mit dem Namen Tarpan ein Pferd von brauner Farbe, plumpem Baue, kleinem Wuchse, schwerfälligem Kopfe und etwas bogigem Umrisse des Schnauzentheils.


Tarpan. 1/25 natürl. Größe.
Tarpan. 1/25 natürl. Größe.

Dasselbe wurde dort nicht als verwildert, sondern als wild angesehen. Nach Aussage der Herren Vasell, welche am unteren Dnjepr große Besitzungen hatten und durchaus zuverlässige Leute waren, sollte es in kleinen Trupps in den Steppen sich aufhalten und gejagt werden. Uebereinstimmend mit diesen Berichten fand ich die Mittheilungen der Schweizer Merz und Filibert auf dem Gute Atimanai am Assow'schen Meere, nicht weit von der so blühenden Ansiedelung der Mennoniten und Würtemberger.

Auch hier halten die eingeborenen und eingewanderten Bewohner das Thier für ein wildes. Ich schließe mich diesen Ansichten an. Es liegen uns aus den weiten Steppengebieten um Dnjepr und Don keine sicheren Nachrichten vom Verwildern der Pferde vor, und wir sind somit nicht berechtigt, Rückschlüsse zu ziehen, welche zur Aufhellung der Frage beitragen könnten. Im Tarpan finden wir die Eigenschaften alle, welche andere wilde Arten der Pferdefamilie besitzen. Wäre er nur ein durch Geschlechter verwildertes Pferd, so würde ihm wohl eine oder die andere der edleren Eigenschaften und Formen geblieben sein. Dies ist jedoch nicht der Fall, und deshalb erscheint es mir nicht unwahrscheinlich, daß wir im Tarpan es wirklich mit einer wilden Pferdeart zu thun haben, und zwar mit der einzigen, welche dem gezüchteten Hauspferde thatsächlich nahe steht. Wichtig wäre es zu wissen, inwieweit die amerikanischen verwilderten Pferde, verglichen mit dem Tarpan, von dem spanischen Pferde in ihrer Körpergestaltung [6] abweichen, beziehentlich, inwieweit sie dem Tarpan nahe kommen. Hierdurch würden wir vielleicht in den Stand gesetzt werden, über diese Frage ein richtigeres Urtheil zu gewinnen.«

Früher nahm man an, daß der Tarpan alle Steppen Südrußlands und Mittelasiens bevölkere und zumal in der hohen Gobi, in den Waldungen des obern Hoangho und auf den Hochgebirgen im Norden Indiens vorkomme. Dem widerspricht Radde. »Soweit ich Mittelasien von Sibirien aus bereiste«, schreibt er mir ferner, »habe ich von den Eingeborenen nirgends Nachrichten über den Tarpan erfahren können. Am Nordende der hohen Gobi, wo der Dschiggetai noch lebt und zumal im Winter, gegen Norden wandernd, noch regelmäßig erscheint, fehlt der Tarpan entschieden.«

Ueber die Lebensweise berichten Gmelin und andere etwa das nachstehende. Man begegnet dem Tarpan immer in Herden, welche mehrere hundert Stück zählen können. Gewöhnlich zerfällt die Hauptmenge wieder in kleinere, familienartige Gesellschaften, denen je ein Hengst vorsteht. Diese Herden bewohnen weite, offen- und hochgelegene Steppen und wandern von Ort zu Ort, gewöhnlich dem Winde entgegen. Sie sind außerordentlich aufmerksam und scheu, schauen mit hoch erhobenem Kopfe umher, sichern, spitzen das Gehör, öffnen die Nüstern und erkennen regelmäßig zu rechter Zeit noch die ihnen drohende Gefahr. Der Hengst ist der alleinige Beherrscher der Gesellschaft. Er sorgt für deren Sicherheit, duldet aber auch keine Unregelmäßigkeiten unter seinen Schutzbefohlenen. Junge Hengste werden von ihm vertrieben und dürfen, solange sie sich nicht selbst einige Stuten erschmeichelt oder erkämpft haben, nur in gewisser Entfernung der großen Herde folgen. Sobald dieser irgend etwas auffällt, beginnt der Hengst zu schnauben und die Ohren rasch zu bewegen, trabt mit hochgehaltenem Kopfe einer bestimmten Richtung zu, wiehert gellend, wenn er Gefahr merkt, und nun jagt die ganze Herde im tollsten Galopp davon. Manchmal verschwinden die Thiere wie durch Zauberschlag: sie haben sich in irgend einer tiefen Einsenkung geborgen und warten nun ab, was da kommen soll. Vor Raubthieren fürchten sich die kampfesmuthigen und kampflustigen Hengste nicht. Auf Wölfe gehen sie wiehernd los und schlagen sie mit den Vorderhufen zu Boden. Die Fabel, daß sie sich mit dem Kopfe im Mittelpunkte eines Kreises zusammen stellen und beständig mit den Hinterhufen ausschlagen sollen, ist längst widerlegt; wohl aber bilden die Hengste einen Kreis um die Stuten und Fohlen, wenn einer jener feigen Räuber sich naht. Unter sich kämpfen die Tarpanhengste mit Ingrimm und zwar ebensogut durch Beißen wie durch Schlagen. Junge Hengste müssen sich ihre Gleichberechtigung immer durch hartnäckige Zweikämpfe erkaufen.

Die pferdezüchtenden Steppenbewohner fürchten die Tarpane noch mehr als die Wölfe, weil jene ihnen oft großen Schaden zufügen. Nach den von Gmelin gesammelten Nachrichten halten sie sich gern in der Nähe der großen Heuschober auf, welche von den russischen Bauern oft in weiter Entfernung von den Ortschaften gestapelt werden und »lassen es sich bei denselben so belieben, daß zwei im Stande sind, einen in einer Nacht leer zu machen«. Gmelin meint, daß hieraus ihre Fettigkeit und kugelrunde Gestalt sich leicht erklären lasse. »Dies aber«, fährt er fort, »ist nicht der einzige Schaden, welchen sie anrichten. Der Tarpanhengst ist auf die russischen Stuten sehr erpicht, und wofern er einer habhaft werden kann, so wird er diese, ihm so erwünschte Gelegenheit nicht aus den Händen lassen, sondern sie gewiß mit sich fortschleppen. Daher erwähnte ich auch eines russischen Pferdes, welches unter denen wilden befindlich war. Es erhellt aber noch mehr aus folgendem: Ein wilder Hengst erblickte einmal einen zahmen Hengst mit zahmen Stuten. Nur um die letzteren war es ihm zu thun; weil aber der erste nicht damit zufrieden sein wollte, so geriethen beide in heftigen Streit. Der zahme Hengst wehrte sich mit den Füßen, der wilde aber biß seinen Feind mit den Zähnen, brachte es auch, aller Gegenvertheidigung ohngeachtet, so weit, daß er ihn zu todt biß und sodann seine verlangten Stuten mit sich nehmen konnte. Es ist daher kein Wunder, wenn die Bauern alle Mittel zu ihrer Vertheidigung und seiner Verjagung anwenden. Wenn ein wilder Hengst eine zahme Stute bespringt, so kommt eine Zwischenart heraus, die etwas vom zahmen und etwas vom wilden Pferde hat. Die russische Stute, welche wir mit der wilden [7] erlegt hatten, scheint die Mutter des Bastards, den wir lebendig bekommen haben, gewesen zu sein; denn erstlich war sie schon alt und dabei noch überdies schwarz; der Bastard aber hatte eine mausbraune, mit der schwarzen gemischte Farbe. Sein Schweif war schon mehr haarigt, doch noch nicht ganz, sein Kopf dick, die Mähne kurz und kraus, der Leib der Gestalt nach mehr länglich; die Haare befanden sich wie bei den zahmen Pferden, sowohl der Länge als der Dichtigkeit nach. Es war eine Stute, deren man aber ohne Gefahr nicht nahe beikommen durfte.«

Der Tarpan ist schwer zu zähmen: es scheint, als ob das Thier die Gefangenschaft nicht ertragen könne. Sein höchst lebendiges Wesen, seine Stärke und Wildheit spotten sogar der Künste der pferdekundigen Mongolen. Auch Fohlen erlangen nur einen geringen Grad von Zahmheit, bleiben vielmehr selbst bei der sorgfältigsten Behandlung wild und stutzig. Als Reitpferde sind solche Wildlinge nicht zu gebrauchen, sie lassen sich höchstens mit einem zahmen Pferde vor den Wagen spannen und machen auch hier dem mitarbeitenden Rosse und dem Lenker viel zu schaffen.

»Mein liebenswürdiger Freund Josef Schatiloff«, bemerkt Radde noch, »erhielt Ende der funfziger Jahre einen lebenden Tarpan und sandte ihn an die kaiserliche Akademie der Wissenschaften, von welcher er dem hochverdienten Akademiker von Brandt überantwortet wurde. Bei regelmäßiger Stallfütterung benahm sich der Tarpan ganz gut, sobald man an ihn keine weiteren Anforderungen stellte, als daß er sein Heu täglich fresse, war und blieb aber in allem übrigen ein tückisches, launenhaftes Thier, welches starrsinnig und beharrlich bei jeder Gelegenheit zu schlagen und zu beißen versuchte und sich auch der sanftesten Behandlung unzugänglich zeigte. Da man ihn an maßgebender Stelle für ein nur verwildertes Pferd hielt, verschenkte man ihn nach geraumer Zeit an einen Pferdeliebhaber.«

Wegen des nicht unbedeutenden Schadens, welchen der Tarpan den freien Stutereien durch Wegführen der Pferde zufügt, jagt man ihn mit Eifer und Leidenschaft. Nach Radde gewordenen Mittheilungen wählt man am Dnjepr vorzugsweise den Frühling zur Jagdzeit, weil das in diesem Jahresabschnitte oft weite Strecken der Steppe überziehende Glatteis der raschen Bewegung unserer Wildpferde hinderlich wird, und die scharfbeschlagenen Jagdpferde sie dann leichter einholen können. Am Assow'schen Meere jagt man im Spätwinter, mit Erfolg jedoch nur dann, wenn man auf gewisse Entfernungen frische Pferde in der Steppe aufstellt und bei der Jagd diese mit den durch die unermüdlichen Tarpane bereits ermatteten wechseln kann. Vor allen fahndet man auf den Hengst, weil die Stuten, wenn jener fällt, sich zersprengen und dann um so leichter den Jägern zur Beute werden.

Vorstehende Angaben lassen die Abstammungsfrage des Pferdes ungelöst. Gmelin wagt nicht, wie es scheinen will, eine bestimmte Ansicht auszusprechen, und Radde's Auffassung steht jener des scharfsinnigen Pallas entgegen. Das Gebaren des Tarpan ist für sein ursprüngliches Sein nicht beweisend, denn Pferde verwildern leicht und rasch. So lehren uns überzeugend die unzählbaren Herden, welche gegenwärtig die Steppengebiete Südamerikas bevölkern. Werfen wir unter Leitung bewährter Führer zunächst einen Blick auf sie.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 5-8.
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