Tanrek (Centetes ecaudatus)

[241] Die Borstenigel (Centetes) unterscheiden sich durch das Fehlen eines äußerlich sichtbaren Schwanzes von den Schlitzrüßlern und durch ihre im Verhältnis zu den übrigen außerordentlich großen und in eine Grube des Oberkiefers aufgenommenen unteren Eckzähne von allen Kerbthierfressern überhaupt. Das Gebiß besteht, wie bei den Familienverwandten, aus 40 Zähnen; es sind jedoch drei Schneide- und nur sechs Backenzähne vorhanden. An dem schlanken Leibe des Tanrek (Centetes ecaudatus, Erinaceus ecaudatus, C. setosus, armatus und variegatus), der bekanntesten Art der Sippe, sitzt der sehr lange Kopf, welcher etwa ein Drittel der ganzen Körperlänge einnimmt, hinten besonders dick ist, nach vornhin aber sich verschmälert; die rundlichen Ohren sind kurz und hinten ausgebuchtet, die Augen klein; der Hals ist kurz und dünner als der Leib, aber wenigstens einigermaßen abgesetzt; die Beine sind mittelhoch, die hinteren nur wenig länger als die vorderen, die Füße fünfzehig, die Krallen mittelstark. Der ganze Körper ist ziemlich dicht mit Stacheln, Borsten und Haaren bedeckt, welche gewissermaßen in einander übergehen oder wenigstens deutlich zeigen, daß der Stachel bloß eine Umänderung des Haares ist. Nur am Hinterkopfe, im Nacken und an den Seiten des Halses finden sich wahre, wenn auch nicht sehr harte, etwas biegsame Stacheln von ungefähr 1 Centim. Länge. Weiter gegen die Seiten hin werden die Stacheln länger, zugleich aber auch dünner, weicher und biegsamer; auf dem Rücken überwiegen die Borsten bei weitem, hüllen auch das Hinterheil des Tanrek vollkommen ein. Die ganze untere Seite und die Beine werden von Haaren bekleidet, und auf der nackten, spitzigen Schnauze stehen lange Schnurren. Die Schnauzenspitze und die Ohren sind nackt, die Füße bloß mit kurzen Haaren bedeckt. Stacheln, Borsten und Haare sind hellgelb gefärbt, bisweilen lichter, bisweilen dunkler, sämmtliche Gebilde aber in der Mitte schwarzbraun geringelt, und zwar auf dem Rücken mehr als an den Seiten. Das Gesicht ist braun, die Füße sind rothgelb, die Schnurren dunkelbraun gefärbt. Junge Thiere zeigen auf braunem Grunde gelbe Längsbänder, welche bei zunehmendem Alter verschwinden. Die Länge des erwachsenen Thieres beträgt ungefähr 25 Centim.

Der Tanrek, ursprünglich nur auf Madagaskar heimisch, aber auch auf der Moritzinsel, Mayotte und Reunion eingebürgert, bewohnt mit Vorliebe busch-, farn- und moosreiche Berggegenden [241] und gräbt hier Höhlen und Gänge in die Erde, welche seine Schlupfwinkel bilden. Er ist ein scheues, furchtsames Geschöpf, welches des größten Theil des Tages in tiefster Zurückgezogenheit lebt, bloß nach Sonnenuntergang zum Vorscheine kommt, ohne sich jemals weit von seiner Höhle zu entfernen. Nur im Frühlinge und im Sommer jener Länder, d.h. nach dem ersten Regen und bis zum Eintritte der Dürre, zeigt er sich. Während der größten Trockenheit, welche, wie ich schon wiederholt bemerkt habe, unserem Winter zu vergleichen ist, zieht er sich in den tiefsten Kessel seines Baues zurück, hier die Monate April bis November in ähnlicher Weise wie unser Igel den Winter verschlafend. Die Eingeborenen glauben, daß die heftigen Donnerschläge, welche die ersten Regen verkünden, ihn aus seinem Todtenschlafe erwecken, und bringen ihn deshalb auf eine geheimnisvolle Weise mit dem wiederkehrenden Frühlinge in Beziehung.


Tanrek (Centetes ecaudatus). 2/5 natürl. Größe.
Tanrek (Centetes ecaudatus). 2/5 natürl. Größe.

Dieser ist für den Tanrek allerdings die günstigste Zeit des ganzen Jahres. Er bekommt zunächst ein neues Kleid und hat dann die beste Gelegenheit, für die dürren Monate ein Schmerbäuchlein sich anzumästen, dessen Fett ihm in der Hungerszeit das Leben erhalten muß. Sobald also der erste Regen die verdurstete Erde angefeuchtet und das Leben des tropischen Frühlings wachgerufen hat, erscheint er wieder, läuft langsamen Ganges mit zu Boden gesenktem Kopfe umher und schnuppert mit seiner spitzigen Nase bedächtig nach allen Seiten hin, um seine Nahrung zu erspähen, welche zum größten Theile aus Kerfen, sonst aber auch aus Würmern, Schnecken und Eidechsen sowie verschiedenen Früchten besteht. Für das Wasser scheint er eine besondere Vorliebe zu haben, steigt in der Nacht gern in seichte Lachen und wühlt dort mit Lust nach Schweineart im Schlamme. Seine geringe Gewandtheit und die Trägheit seines Ganges bringt ihn leicht in die Gewalt seiner Feinde, um so mehr, als ihm nicht einmal ein gleiches Mittel zur Abwehr gegeben ist wie den eigentlichen Igeln. Seine einzige, aber schwache Waffe besteht in einem höchst unangenehmen, moschusartigen Gestank, den er beständig verbreitet und, wenn er gestört oder erschreckt wird, merklich steigern kann. Selbst ein plumpes Säugethier ist fähig, ihn zu fangen und zu überwältigen; die Raubvögel stellen ihm eifrig nach, und die Eingeborenen seiner heimatlichen Inseln jagen ihn mit Leidenschaft, ebensowohl [242] während seines Sommerlebens wie in der Zeit seines Winterschlafes. Laut Pollen erkennt man sein Winterlager an einem kleinen Hügel über der Höhlung, benutzt auch wohl besonders abgerichtete Hunde, welche ihm nachspüren und ausgraben. Während der Feistzeit sieht man auf den Märkten der Insel überall lebende, abgeschlachtete und zubereitete Borstenigel, und die Bewohner der Gebirge er scheinen an Feiertagen einzig und allein deshalb in der Stadt, um sich mit dem nach ihrer Meinung kostbaren Fleische zu versorgen. Wahrscheinlich würde er den unausgesetzten Verfolgungen bald erliegen, wäre er nicht ein so fruchtbares Thier, welches mit einem Wurfe eine ungemein zahlreiche Nachkommenschaft, zwölf bis sechszehn Junge nämlich, zur Welt bringt. Diese erreichen schon nach einigen Monaten eine Länge von sieben Centimeter und sind sehr bald befähigt, ihre Nahrung auf eigne Faust sich zu erwerben. »Die Mutterliebe der Alten«, sagt Pollen, »ist wirklich bewunderungswürdig. Sie vertheidigt die Jungen wüthend gegen jeden Feind, und gibt sich eher dem Tode preis, als sie zu verlassen.«

In der Gefangenschaft frißt der Tanrek rohes Fleisch, gekochten Reis und Bananen. Den Tag verschläft er, nachts dagegen ist er sehr munter. Wenn man ihm Erde gibt, durchwühlt er dieselbe mit seinem Rüssel wie ein Schwein, wälzt sich auch gern auf ihr umher. Mittels seiner starken Krallen versucht er, den Käfig zu zerbrechen, kommt auch manchmal zum Ziele. Mit anderen seiner Art streitet er sich oft, zumal um die Nahrung. So viel mir bekannt, hat man ihn lebend noch nicht nach Europa gebracht.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 241-243.
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