Vierte Familie: Spitzmäuse (Soricidea)

[226] Was die Marder unter den Raubthieren, sind die Spitzmäuse (Soricidea) unter den Kerbthierfressern. Wie jene besitzen sie alle Fähigkeiten, welche ein echtes Räuberleben möglich machen, sind sie in allen Gebieten der Erde zu Hause, und zeigen einen Muth, einen Blutdurst, eine Grausamkeit, welche mit ihrer geringen Größe gar nicht im Verhältnis stehen.

Die Spitzmäuse, neben den Fledermäusen die kleinsten aller Säugethiere, sind regelmäßig gebaute, in ihrer äußeren Erscheinung an Ratten und Mäuse erinnernde Kerfjäger. Der Leib ist schlank, der Kopf lang, der Schnauzentheil gestreckt, das Gebiß sehr vollständig und aus außerordentlich scharfen Zähnen zusammengesetzt, gewöhnlich gebildet von zwei bis drei Schneidezähnen, welche oft gekerbt sind, drei bis fünf Lück- und drei bis vier echten, vier- oder fünfzackigen Backenzähnen in jeder Reihe. Die eigentlichen Eckzähne fehlen. Zwölf bis 14 Wirbel tragen Rippen, 6 bis 8 sind rippenlos, 3 bis 5 bilden das Kreuzbein, 14 bis 28 den Schwanz. Eigenthümliche Drüsen liegen an den Rumpfseiten oder an der Schwanzwurzel. Den Leib bekleiden weiche, sammetähnliche Haare, die Lippen und Füße wie den Schwanz straffere Härchen, die Wangen lange Schnurren, die Fußseiten starke, nach der nackten Fußsohle hin scharf abgesetzte Borstenhaare.

Gegenwärtig verbreiten sich die Spitzmäuse über die Alte Welt und Amerika; in Australien dagegen fehlen sie gänzlich. Sie leben ebensowohl in Ebenen wie in höher gelegenen Gegenden, selbst auf den Voralpen und Alpen, am liebsten aber in dichteren Wäldern und Gebüschen, auf Wiesen und Auen, in Gärten und Häusern. Die meisten geben feuchten Orten den Vorzug; einige treiben sich im Wasser umher. Viele führen ein unterirdisches Leben, indem sie sich selbst Löcher oder Gänge graben oder die schon vorhandenen benutzen, nachdem sie den rechtmäßigen Eigenthümer mit Güte oder Gewalt vertrieben haben. Fast alle suchen die Dunkelheit oder den Schatten und scheuen die Dürre, die Hitze, das Licht, sind auch gegen derartige Einflüsse so empfindlich, daß sie den Sonnenstrahlen häufig unterliegen. Ihre Bewegungen sind außerordentlich rasch und behend, sie mögen so verschiedenartig sein, als sie wollen. Diejenigen, welche bloß laufen, huschen pfeilschnell dahin, die Schwimmer stehen keinem Binnenlandsäugethiere nach.

Unter den Sinnen der Spitzmäuse scheint der Geruch obenanzustehen, nächstdem ist das Gehör besonders ausgebildet, das Auge dagegen mehr oder weniger verkümmert. Ihre geistigen Fähigkeiten sind gering; dennoch läßt sich ein gewisser Grad von Verstand nicht ableugnen. Sie sind raub- und mordlustig im hohen Grade und kleineren Thieren wirklich furchtbar, während sie größeren bedächtig ausweichen. Schon bei dem geringsten Geräusche ziehen sich die meisten nach ihren Schlupfwinkeln zurück, haben aber auch Ursache, dies zu thun, weil sie gegen starke Thiere so gut als wehrlos sind. Wir müssen die meisten von ihnen von unserem Standpunkte aus nicht nur als harmlose, unschädliche Thiere betrachten, sondern in ihnen höchst nützliche Geschöpfe erkennen, welche uns durch Vertilgung schädlicher Kerfe erhebliche Dienste leisten. Ihre Nahrung ziehen sie nämlich fast nur aus dem Thierreiche: Kerbthiere und deren Larven, Würmer, Weichthiere, kleine Vögel und Säugethiere, unter Umständen aber auch Fische und deren Eier, Krebse usw. fallen ihnen zur Beute.[226] Ungemein gefräßig, verzehren sie täglich so viel, als ihr eigenes Gewicht beträgt.


Geripp der Wasserspitzmaus. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)
Geripp der Wasserspitzmaus. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)

Keine einzige Art kann den Hunger längere Zeit vertragen; sie halten deshalb auch keinen Winterschlaf, sondern treiben sich bei einigermaßen milder Witterung sogar auf dem verschneiten Boden umher oder suchen an geschützten Orten, z.B. in menschlichen Wohnungen, ihre Nahrung auf. Die Stimme aller Arten besteht in seinen, zwischernden oder quiekenden und pfeifenden Lauten; in der Angst lassen sie klägliche Töne vernehmen, und bei Gefahr verbreiten alle einen stärkeren oder schwächeren Moschus- oder Zibetgeruch, welcher sie im Leben zwar nicht gegen ihre Feinde bewahrt, sie aber doch nur sehr wenigen Thieren als genießbar erscheinen läßt. So lassen die Hunde, Katzen und Marder gewöhnlich die getödteten Spitzmäuse liegen, ohne sie aufzufressen, während die meisten Vögel, bei denen Geruch- und Geschmacksinn weniger entwickelt sind, sie als Nahrung nicht verschmähen.

Die meisten Spitzmäuse sind fruchtbare Geschöpfe; denn sie werfen zwischen vier und zehn Junge. Gewöhnlich kommen diese nackt und mit geschlossenen Augen zur Welt, entwickeln sich aber rasch und sind schon nach Monastfrist im Stande, ihr eigenes Gewerbe zu betreiben.

Der Mensch kann unsere Thiere unmittelbar nicht verwerthen; wenigstens wird nur von einer einzigen Art das Fell als Pelzwerk und der stark nach Zibet riechende Schwanz als Mittel gegen die Motten benutzt, das Fleisch aber nirgends gegessen. Um so größer ist der mittelbare Nutzen, den die Spitzmäuse bringen. Dieser Nutzen muß schon von den alten Egyptern anerkannt worden sein, weil sie eine Art von ihnen einbalsamirt und mit ihren Todten begraben haben.

In der ersten Unterfamilie vereinigt man die Spitzmäuse (Soricina) im engeren Sinne. Sie bilden den Kern der Familie, haben 28 bis 32 Zähne, einen langen und schmalen Schädel mit häutigen Stellen am Schädelgrunde, aber ohne Jochbogen, verwachsene Unterschenkelknochen und keine Schwimmhäute zwischen den Zehen. In Deutschland sind drei Sippen dieser Unterfamilie vertreten.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 226-227.
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