Waldspitzmaus (Sorex vulgaris)

[227] Zweiunddreißig an den Spitzen dunkelbraun gefärbte Zähne, und zwar zwei große Vorderzähne mit Höckern, fünf kleine einspitzige Lück- und vier vielspitzige Mahlzähne in Oberkiefer, zwei an den Schneiden wellenförmig gezähnelte Vorder-, zwei Lück- und drei Backenzähne im Unterkiefer, ringsum an den Seiten mit kurzen und weichen Haaren umgebene Füße und Zehen und gleichmäßige und gleichlange Behaarung des Schwanzes kennzeichnen die Spitzmäuse im engsten Sinne (Sorex), deren gemeinste Vertreterin, die Waldspitzmaus (Sorex vulgaris, S. tetragonurus, eremita, cunicularia, coronatus, concinnus, rhinolophus, melanodon, castaneus, labiosus usw.) zu den bekanntesten Thieren unseres Vaterlandes gehört. An Größe steht die Waldspitzmaus der Hausmaus etwas nach: ihre Länge beträgt 11 Centim., wovon 4,5 Centim. auf den Schwanz kommen. Die Färbung des feinen Sammetpelzes spielt zwischen lebhaftem Rothbraun [227] und dem glänzendsten Schwarz; die Seiten sind immer lichter gefärbt als der Rücken, die Untertheile graulichweiß mit bräunlichem Anfluge, die Lippen weißlich, die langen Schnurren schwarz, die Pfoten bräunlich, der Schwanz oben dunkelbraun, unten aber bräunlichgelb. Nach der wechselnden Färbung hat man mehrere Unterschiede angenommen, welche die Einen für Arten, die Anderen für Abarten erklären.

Man findet die Waldspitzmaus in Deutschland, Schweden, England, Frankreich, Italien, Ungarn und Galizien, wahrscheinlich auch im benachtbarten Rußland, in der Höhe sowohl wie in der Tiefe, auf Bergen wie in Thälern, in Feldern, Gärten, in der Nähe von Dörfern oder in Dörfern selbst und gewöhnlich nahe bei Gewässern. In Winter kommt sie in die Häuser oder wenigstens in die Ställe und Scheuern herein. Bei uns ist sie die gemeinste Art der ganzen Familie. Sie bewohnt am liebsten unterirdische Höhlen und bezieht deshalb gern die Gänge des Maulwurfs oder verlassene Mäuselöcher, falls sie nicht natürliche Ritzen und Spalten im Gestein auffindet.


Hausspitzmaus (Crocidura Araneus) und Waldspitzmaus (Sorex vulgaris). Natürliche Größe.
Hausspitzmaus (Crocidura Araneus) und Waldspitzmaus (Sorex vulgaris). Natürliche Größe.

In weichem Boden gräbt sie mit ihrem Rüssel und den schwachen Vorderpfoten selbst Gänge aus, welche regelmäßig sehr oberflächlich unter der Erde dahin laufen. Wie die meisten anderen Arten der Familie ist auch sie ein vollkommenes Nachtthier, welches bei Tage nur ungern seinen unterirdischen Aufenthaltsort verläßt. Niemals thut sie dies während der Mittagssonne, und es scheint wirklich, daß die Sonnenstrahlen ihr überaus beschwerlich fallen; wenigstens nimmt man an, daß die vielen todten, welche man im Hochsommer an Wegen und Gräben findet, von der Sonne geblendet, den Eingang ihrer Höhle nicht wieder auffinden konnten und deshalb zu Grunde gingen.

Unaufhörlich sieht man die Spitzmaus beschäftigt, mit ihrem Rüssel nach allen Richtungen hin zu schnüffeln, um Nahrung zu suchen, und was sie findet und überwältigen kann, ist verloren: sie frißt ihre eigenen Jungen oder die Getödteten ihrer eigenen Art auf. »Ich habe«, sagt Lenz, »oft Spitzmäuse in Kisten gehabt. Mit Fliegen, Mehlwürmern, Regenwürmern und dergleichen sind sie fast gar nicht zu sättigen. Ich mußte jeder täglich eine ganze todte Maus oder Spitzmaus oder ein Vögelchen von ihrer eigenen Größe geben. Sie fressen, so klein sie sind, täglich ihre Maus auf und lassen nur Fell und Knochen übrig. So habe ich sie oft recht fett gemästet; läßt man sie aber im geringsten Hunger leiden, so sterben sie. Ich habe auch versucht, ihnen nichts als Brod, [228] Rüben, Birnen, Hanf, Mohn, Rübsamen, Kanariensamen usw. zu geben; aber sie verhungerten lieber, als daß sie anbissen. Bekamen sie fettgebackenen Kuchen, so bissen sie dem Fett zu Liebe an; fanden sie eine in einer Falle gefangene Spitzmaus oder Maus, so machten sie sich augenblicklich daran, selbige aufzufressen. Bei guter Abwartung hält die Waldspitzmaus monatelang in Gefangenschaft aus.«

Der Dichter Welcker band einer lebenden Spitzmaus einen festen Faden an den Hinterfuß und ließ sie auf dem Felde in von Mäusen bewohnte Löcher kriechen. Nach einer kurzen Zeit kam aus einem derselben eine Ackermaus in größter Angst hervor gekrochen, aber mit der Spitzmaus auf dem Rücken. Das gierige Raubthier hatte sich mit den Zähnen im Nacken des Schlachtopfers eingebissen, saugte ihm luchsartig das Blut aus, tödtete es in kurzer Zeit und fraß es auf.

Die Bewegungen der Waldspitzmaus sind außerordentlich rasch und behend. Sie läuft huschend gewandt auf dem Boden dahin, springt ziemlich weit, vermag an schiefen Stämmen empor zu klettern und versteht im Nothfalle recht leidlich zu schwimmen. Ihre Stimme besteht in einem scharfen, feinzwitschernden, fast pfeifenden aber leisen Tone, wie ihn auch die übrigen Arten der Familie vernehmen lassen. Unter den Sinnen steht unzweifelhaft der Geruch obenan. Es kommt oft vor, daß lebend gefangene, welche wieder frei gelassen werden, in die Falle zurücklaufen, bloß weil diese den Spitzmausgeruch an sich hat. Ihrem Gesichte scheint die Spitzmaus nicht zu folgen, und ebenso muß ihr Gehör ziemlich schwach sein; die feine Nase ersetzt aber auch beide Sinne fast vollkommen.

Es gibt wenig andere Thiere, welche so ungesellig sind und sich gegen ihres Gleichen so abscheulich benehmen wie eben die Spitzmäuse; bloß der Maulwurf noch dürfte ihnen hierin gleichkommen. Nicht einmal die verschiedenen Geschlechter leben, die Paarzeit ausgenommen, im Frieden mit einander. Sonst frißt eine Spitzmaus die andere auf, sobald sie derselben habhaft werden und sie überwältigen kann. Oft sieht man zwei von ihnen in einen so wüthenden Kampf verwickelt, daß man sie mit den Händen greifen kann; sie bilden einen förmlichen Knäuel und rollen nun über den Boden dahin, fest in einander verbissen und mit einer Wuth an einander hängend, welche des unfläthigsten Bulldoggen würdig wäre. Ein wahres Glück ist es, daß die Spitzmäuse nicht Löwengröße haben: sie würden die ganze Erde entvölkern und schließlich verhungern müssen. Nur höchst selten trifft man größere Gesellschaften von Spitzmäusen an, zwischen denen Frieden herrscht oder zu herrschen scheint. Cartrey hörte einmal in trockenem Laube ein ununterbrochenes Rascheln und Lärmen und entdeckte eine zahlreiche Menge unserer Thiere, seiner Schätzung nach etwa hundert Stück, welche unter einander zu spielen schienen und unter beständigem Zirpen und Quieken hin- und herrannten, warum, war nicht zu ergründen; vielleicht handelte es sich um eine großartige Freierei.

Die trächtige Spitzmaus baut sich ein Nest aus Moos, Gras, Laub und Pflanzenstengeln, am liebsten im Mauerwerk oder unter hohlen Baumwurzeln, versieht es mit mehreren Seitengängen, füttert es weich aus und wirft hier zwischen Mai und Juli fünf bis zehn Junge, welche nackt und mit geschlossenen Augen und Ohren geboren werden. Anfänglich säugt die Alte die Sprößlinge mit vieler Zärtlichkeit, bald aber erkaltet ihre Liebe, und die Jungen machen sich nun auf, um sich selbständig ihre Nahrung zu erwerben. Dabei schwinden, wie bemerkt, alle geschwisterlichen Rücksichten; denn jede Spitzmaus versteht schon in der Jugend unter Nahrung nichts anderes als alles Fleisch, welches sie erbeuten kann, sei es auch der Leichnam ihres Geschwisters.

Auffallend ist, daß die Spitzmäuse nur von wenigen Thieren gefressen werden. Die Katzen tödten sie, wahrscheinlich, weil sie sie anfangs für eine Maus halten, beißen sie aber nur todt, ohne sie jemals zu fressen. Auch die Marderarten scheinen sie zu verschmähen. Bloß einige Raubvögel sowie der Storch und die Kreuzotter verschlingen sie ohne Umstände und mit Behagen. Jedenfalls hat die Abneigung der geruchsbegabten Säugethiere ihren Grund in dem Widerwillen, welchen ihnen die Ausdünstung der Spitzmäuse einflößt. Dieser starke moschusartige Geruch wird durch zwei Absonderungsdrüsen hervorgebracht, welche sich an den Seiten des Leibes, und zwar näher an [229] den Vorder- als an den Hinterbeinen finden, und theilt sich allen Gegenständen, welche die Spitzmaus berührt, augenblicklich mit.

Es ist möglich, daß der Aberglaube, unter welchem die Spitzmäuse in manchen Gegenden Europas zu leiden haben, in diesem Geruche mit begründet ist. Hier und da, in England z.B., wird das harmlose Thier fast noch mehr gefürchtet als die tückische Viper. Jedermann sieht ein, daß eine Spitzmaus dem Menschen mit ihren feinen, dünnen Zähnen nicht das geringste zu Leide thun kann, und dennoch schreibt man ihrem Bisse die giftigsten Wirkungen zu. Ja, das bloße Berühren von einer Spitzmaus wurde als ein sicherer Vorbote irgend welchen Uebels gedeutet, und Thier oder Mensch, welche »spitzmausgeschlagen« waren, mußten, nach allgemeinen gültiger Meinung aller alten Waschweiber in Frauen- oder Männertracht, nothwendigerweise demnächst erkranken, falls sie nicht ein eigenthümliches Mittel schleunigst anwandten. Dieses Heilmittel, welches allein gegen die Spitzmauskrankheit helfen konnte, bestand in den Zweigen einer »Spitzmausesche«, welche durch ein sehr einfaches Verfahren zu dem heilkräftigen Baume gestempelt worden war. Eine lebendige Spitzmaus wurde gefangen und mit Siegesjubel zu der Esche gebracht, welcher die Ehre zu Theil werden sollte, das Menschengeschlecht vor den Schlingen des Satans in Gestalt des kleinen Raubthieres zu schützen. Man bohrte ein großes Loch in den Stamm der Esche, ließ die Spitzmaus hinein kriechen und verschloß das Loch durch einen festen Pfropfen. So kurze Zeit nun auch das Leben des solchem Wahne geopferten Thieres in dem engen Gefängnisse währen konnte, so kräftig war doch die Wirkung; denn von diesem Augenblick an erhielt die Esche ihre übernatürlichen Kräfte.

Wie verbreitet und allgemein geglaubt dieser Unsinn in der Vorzeit war, geht aus der »Geschichte der vierfüßigen Thiere und der Schlangen von Topsel« hervor, welche im Jahre 1658 zu London erschien. Der spaßhafte alte Thierkundige sagt über die Spitzmaus in jenem Buche ungefähr folgendes: »Sie ist ein raubgieriges Vieh, heuchelt aber Liebenswürdigkeit und Zahmheit; doch beißt sie tief und vergiftet tödtlich, so wie sie berührt wird. Grausamen Wesens, sucht sie jedem Dinge zu schaden, und es gibt kein Geschöpf, welches von ihr geliebt wird, noch eines, welches sie lieben sollte; denn alle Thiere fürchten sie. Die Katzen jagen und tödten sie, aber sie fressen sie nicht; denn wenn sie letzteres thun wollten, würden sie vergehen und sterben. Wenn die Spitzmäuse in ein Fahrgeleise fallen, müssen sie ihr Leben lassen, weil sie nicht wieder weggehen können. Dies bezeugen Marcellus Nicander und Plinius, und die Ursache davon wird von Philes gegeben, welcher sagt, daß sie sich in einem Geleise so erschöpft und bedroht fühlen, als wären sie in Banden geschlagen. Eben deshalb haben die Alten auch die Erde aus Fahrgeleisen als Gegenmittel für den Spitzmausbiß verschrieben. Man hat aber noch mehrere Mittel, wie bei anderen Krankheiten, um die Wirkung ihres Giftes zu heilen, und diese Mittel dienen zugleich auch noch, um allerlei Uebel zu heben. Eine Spitzmaus, welche aus irgend einer Ursache in ein Geleis gefallen und dort gestorben ist, wird verbrannt, zerstampft und dann mit Staub und Gänsefett vermischt: solche Salbe heilt alle Entzündungen unfehlbar. Eine Spitzmaus, welche getödtet und so aufgehängt worden ist, daß sie weder jetzt noch später den Grund berührt, hilft denen, deren Leib mit Geschwüren und Beulen bedeckt ist, wenn sie die wunde Stelle dreimal mit dem Leichname des Thieres berühren. Auch eine Spitzmaus, welche todt gefunden und in Leinen-, Wollen- oder anderes Zeug eingewickelt worden ist, heilt Schwären und andere Entzündungen. Der Schwanz der Spitzmaus, welcher zu Pulver gebrannt und zur Salbe verwandt wurde, ist ein untrügliches Mittel gegen den Biß wüthender oder toller Hunde usw.« Nach diesem einen Pröbchen brauche ich wohl von der sonstigen Verwendung des heilkräftigen Thierchens nichts weiter zu sagen.


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 227-230.
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